Die IGH-Anordnung gegen Israel widerlegt die Behauptung Berlins, Südafrikas Klage entbehre „jeder Grundlage“, und bringt erstmals den Globalen Süden vor der Weltjustiz in die Offensive.
Die Bundesregierung muss mit der einstweiligen Anordnung des Internationalen Gerichtshofs (IGH) in Den Haag im Genozidverfahren gegen Israel einen herben Schlag hinnehmen. Mitte Januar hatte sie offen behauptet, der gegen Tel Aviv erhobene „Vorwurf des Völkermords“ „entbehrt jeder Grundlage“. Der IGH hat jetzt Israel zu Maßnahmen verpflichtet, die deutlich machen, dass er konkrete Anhaltspunkte für genozidale Absichten und Handlungen erkennt. Käme er im Hauptverfahren zu dem Schluss, Israel habe sich tatsächlich genozidaler Aktivitäten schuldig gemacht, dann sähe sich Berlin dem Vorwurf ausgesetzt, es habe – etwa mit seinen Waffenlieferungen – Beihilfe dazu geleistet. Das IGH-Verfahren bringt schon heute gravierende Konsequenzen für Deutschland mit sich. Bislang konnte sich Berlin sicher sein, dass die internationale Justiz weitgehend im Sinne des Westens funktionierte; so wurden etwa vor dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) Verfahren ausschließlich gegen nichtwestliche Staaten eingeleitet, während die Kriegsverbrechen des Westens ohne Folgen blieben. Im aktuellen IGH-Verfahren gehen nun Staaten des Globalen Südens gegen Israel und seine westlichen Unterstützer vor.
Die Anordnung des IGH
Der Internationale Gerichtshof (IGH) in Den Haag, das höchste Gericht der Vereinten Nationen, hat am Freitag in einer einstweiligen Anordnung den Eilanträgen Südafrikas in dessen Genozidverfahren gegen Israel teilweise stattgegeben.[1] Eine sofortige Einstellung der Angriffe im Gazastreifen, wie Pretoria sie gefordert hatte, verlangt er nicht; doch hat er Israel aufgefordert sicherzustellen, dass seine Kriegführung keinen der Tatbestände erfüllt, die in Artikel II der Völkermord-Konvention als kennzeichnend für einen Genozid festgehalten sind. Damit hat die klare Mehrheit der IGH-Richter, so heißt es in einem Fachbeitrag, sehr „deutlich“ gemacht, dass es auf israelischer Seite zumindest „plausible Anhaltspunkte“ für genozidale Absichten oder Handlungen gibt.[2] Der IGH hat Israel mit seiner einstweiligen Anordnung zu sechs Maßnahmen verpflichtet. Insbesondere dringt er darauf, die Versorgungslage im Gazastreifen zu verbessern und jegliche öffentliche Anstachelung oder gar Aufforderung zum Genozid an den Palästinensern zu unterbinden respektive zu bestrafen. Letzteren beiden Anordnungen stimmte nicht zuletzt auch der von Israel entsandte Richter Aharon Barak zu. Israel muss nun innerhalb eines Monats einen Bericht vorlegen, in dem es sämtliche Maßnahmen zur Verhinderung eines Genozids dokumentiert.
„Ohne jede Grundlage“
Die einstweilige Anordnung des IGH ist ein herber Schlag für die Bundesregierung. Diese hatte am 12. Januar erklärt, sie weise den „gegen Israel erhobenen Vorwurf des Völkermords … entschieden und ausdrücklich zurück“: „Dieser Vorwurf entbehrt jeder Grundlage“.[3] Dem IGH-Entscheid zufolge kann die Berliner Behauptung jetzt nicht mehr aufrechterhalten werden. Die Bundesregierung hatte zudem erklärt, sie „intendier[e], in der Hauptverhandlung als Drittpartei zu intervenieren“. Erfüllt Israel die vom IGH geforderten Maßnahmen nicht, dann geriete Berlin in eine Lage, in der es als Verteidiger womöglich genozidaler Aktivitäten aufträte. Tatsächlich räumt Außenministerin Annalena Baerbock jetzt offen ein, die vom IGH verlangten Schritte seien „völkerrechtlich verbindlich: Daran muss sich Israel halten.“[4] Davon abgesehen geht die Bundesregierung nicht nur mit der politischen Unterstützung für die israelische Kriegführung, sondern auch mit der Lieferung von Waffen und Munition [5] ein erhebliches Risiko ein. Käme der IGH in seiner Hauptverhandlung, die sich allerdings über Jahre hinziehen kann, zu dem Ergebnis, es seien einer oder gar mehrere Tatbestände für einen Genozid erfüllt, dann hätte die Bundesregierung Beihilfe zum Völkermord geleistet. Der politische Schaden für Berlin, das sich stets als Vorreiter in Sachen Völkerrecht inszeniert, wäre enorm.
Der „Afrika-Gerichtshof“
Dabei bringt das IGH-Verfahren bereits per se weitreichende Konsequenzen für Berlin mit sich. Lange Zeit konnten sich die Bundesrepublik und die anderen westlichen Staaten darauf verlassen, dass die internationale Justiz für ihre politischen Zwecke nutzbar war. Ein Beispiel bot der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag, der seit Beginn seiner Arbeit zum 1. Juli 2002 über viele Jahre hin lediglich Verfahren gegen Bürger afrikanischer Staaten eröffnete, die dem Westen politisch nicht zu Willen waren. Auf dem Kontinent wurde der IStGH deshalb als „Afrika-Gerichtshof“ verspottet. Im Jahr 2016 kündigten mehrere Staaten Afrikas, darunter Südafrika, ihre Trennung von ihm an (german-foreign-policy.com berichtete [6]). Südafrika machte diesen Schritt wenig später rückgängig. Um dem Vorwurf einseitigen Vorgehens zu entkommen, leitete der IStGH ab 2016 reguläre Ermittlungen auch gegen Bürger ausgewählter nicht-afrikanischer Staaten ein, darunter Georgien, Venezuela und Myanmar; diese teilten allerdings die Eigenschaft, dass ihre Regierungen vom Westen klar abgelehnt wurden. Zuletzt hat der IStGH am 17. März einen Haftbefehl gegen Russlands Präsidenten Wladimir Putin erlassen, dem er die gezielte Verschleppung ukrainischer Kinder vorwirft.[7] Der Haftbefehl schränkt Putins Reisemöglichkeiten erheblich ein.
Folgenlose Verbrechen
Das Vorgehen des IStGH gegen dem Westen missliebige Staaten kontrastiert scharf damit, dass der Gerichtshof gegen Bürger westlicher Staaten untätig bleibt. Einen Versuch, dies zu durchbrechen, unternahm die damalige IStGH-Chefanklägerin Fatou Bensouda Ende 2017, als sie beantragte, Ermittlungen wegen Kriegsverbrechen in Afghanistan aufnehmen zu dürfen, darunter soche, die von US-Militärs und der CIA begangen wurden.[8] Der Versuch scheiterte: Washington kündigte an, es werde Ermittlungen des Gerichtshofs nicht zulassen; am 11. Juni 2020 gab US-Präsident Donald Trump Sanktionen gegen Bensouda und einen weiteren Funktionär des IStGH bekannt, die am 2. September 2020 in Kraft traten.[9] Auch mit anderen internationalen Gerichtshöfen gibt es ähnliche Erfahrungen. Ein Beispiel bietet der Streit um die Chagos-Inseln im Indischen Ozean, die Großbritannien bis heute unter Kontrolle hält, um den Vereinigten Staaten den Unterhalt ihres Militärstützpunktes Diego Garcia zu ermöglichen (german-foreign-policy.com berichtete [10]). Der IGH forderte Großbritannien am 25. Februar 2019 in einem Gutachten dazu auf, die Inseln „so rasch wie möglich“ an ihren rechtmäßigen Besitzer Mauritius zurückzugeben. Der Internationale Seegerichtshof der Vereinten Nationen (ISGH) in Hamburg schloss sich dem am 28. Januar 2021 in einem rechtsverbindlichen Urteil an. London verweigert sich bis heute.
Die Wende
Das aktuelle IGH-Verfahren sowie weitere Verfahren vor dem IStGH gegen Israel wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen im Gazastreifen scheinen strukturell eine Wende zu bringen. Die Verfahren werden sämtlich von Staaten des Globalen Südens angestrengt, die bislang stets damit rechnen mussten, vom Westen vor internationale Gerichtshöfe gezerrt zu werden. Gleichzeitig richten sie sich implizit auch gegen Israels westliche Unterstützer. Das IGH-Genozidverfahren selbst wurde von Südafrika angestrengt; es wird von anderen Ländern des Globalen Südens, darunter Brasilien, Namibia und Malaysia, zudem von der Organization of Islamic Cooperation (OIC) und der Arabischen Liga unterstützt. Verfahren gegen Israel wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen vor dem IStGH wurden inzwischen von Mexiko und von Chile initiiert. Berechnungen zeigen, dass die Länder, die sich in der einen oder anderen Form hinter die Verfahren gestellt haben – es ist die überwiegende Mehrheit der Staaten Asiens, Afrikas und Lateinamerikas –, für 59 Prozent der Bevölkerung des Globalen Südens stehen.[11] Dass es nicht mehr sind, liegt vor allem daran, dass die zwei Länder mit der größten Bevölkerung, Indien und China, sich nicht offiziell positioniert haben. Zum ersten Mal erheben sich damit bedeutende Teile des Globalen Südens geschlossen und im großen Stil vor internationalen Gerichten gegen die tradierte globale Dominanz des Westens.