Gerardo Aguirre war voller Vorfreude, als er im März 2020 ins Flugzeug stieg, um am Universitätsklinikum Bonn als Krankenpfleger zu arbeiten. Er gehörte zu den ersten Pflegekräften, die durch ein Anwerbeabkommen mit Mexiko nach Deutschland gekommen waren. Aber seine Freude hielt nicht lange. Bürokratie, Rassismus und der Stress auf der Station ließen seine Illusion platzen, ein Jahr später kehrte er zurück nach Chihuahua. Obwohl er dort eine gute Stelle hat, sucht er gerade wieder nach Jobangeboten in Deutschland.
„Das sieht gut aus, das mach ich!“
Gerardo Aguirre kommt von einer Nachtschicht als Pfleger in einem Gefängniskrankenhaus in Chihuahua, Nordmexiko. Er hat eine Kleinigkeit gefrühstückt und wirkt fit, während er erzählt, wann er zum ersten Mal darüber nachdachte, ins Ausland zu gehen: „Ich hatte gerade angefangen zu studieren. Deutschland hatte ich anfangs nicht auf dem Schirm, aber dann bekam ich mit, dass in Deutschland Pflegekräfte aus Mexiko gesucht werden. Mein Ehemann und ich fingen also an, Deutsch zu lernen.“ Kurz vor Ende seines Studiums stieß er auf eine Ausschreibung vom Universitätsklinikum Bonn und dachte sofort: „Das sieht gut aus, das mache ich.“
Gerardo bewarb sich – und wurde genommen. Im Sommer 2019 fing er an, sich auf die Ausreise nach Deutschland vorzubereiten. Er gehörte damit zur ersten Generation von mexikanischen Pflegekräften, die durch ein Anwerbeabkommen zwischen der deutschen und der mexikanischen Regierung nach Bonn kamen. Schon seit 2013 wirbt Deutschland aus verschiedenen Ländern Pflegekräfte an, um die Lücken zu stopfen, die die neoliberale Gesundheitspolitik in den letzten drei Jahrzehnten hinterlassen hat.
Im Februar 2020 ging dann alles Schlag auf Schlag: Wegen der Coronapandemie schloss das Goetheinstitut seine Türen. Gerardo und seine zukünftigen Kolleg*innen saßen wochenlang voller Ungewissheit zu Hause. Das B2-Sprachzertifikat, eigentlich eine Voraussetzung für den Jobbeginn in Deutschland, konnten sie nicht mehr machen. „Und dann hieß es von einem Tag auf den anderen: Wer schon B1 hat, kann mit einem Repatriierungsflug nach Deutschland reisen. Da waren die Grenzen ja schon geschlossen“ erzählt Gerardo.
Der Schock kam am ersten Arbeitstag – Überforderung, Stress, Überstunden
Der Empfang am Flughafen sei nett gewesen, erinnert er sich. Der Schock kam am ersten Arbeitstag auf der Frühgeborenenstation. Sein Stationsleiter hatte ihm einen Mitarbeiter zugewiesen, der ihm alles erklären sollte, aber der sei so gestresst gewesen, dass Gerardo ihn nie zu Gesicht bekommen habe. Er nahm es seinem Kollegen nicht übel, denn das Problem liegt in den Strukturen: „Es ist nicht so, als wollten die Leute dir nicht helfen. Es ist einfach nicht möglich, weil die Arbeitsbelastung so hoch ist, dass sie alles andere ignorieren.“ Der nächste Schreck folgte, als sein Stationsleiter ihm den Dienstplan aushändigte: „Fünf Tage Frühdienst, ein Tag frei, acht Tage Nachtdienst, ein Tag frei, und dann Spätdienst. Das stand so nicht in meinem Vertrag, aber mein Chef meinte, es gebe einfach kein Personal, alle müssten Überstunden machen.“ Gerardo war das nicht gewöhnt, in Mexiko hatte er immer feste Arbeitszeiten gehabt. Irgendwann, erzählt er, hielt er es nicht mehr aus, jeden Tag seine Kolleg*innen weinen zu sehen. „Selbst an meinem schlimmsten Tag in Mexiko war ich nicht so erschöpft und wütend wie jeden einzelnen Tag in Deutschland“, meint Gerardo auf die Frage nach der Arbeitsbelastung.
Deutschland trotz allem bei internationalen Pflegekräften im Trend
Oft heißt es, das Schwierigste für die angeworbenen Pflegekräfte sei die deutsche Sprache. Um Sprachbarrieren zu überwinden, bräuchte es Zeit und gute Betreuung. Das aber ist unmöglich, wenn die Stationen wegen des Pflegekräftemangels immer wieder die Personaluntergrenzen reißen. Gerardo war außerdem frustriert von der langsamen Bürokratie und davon, auf Ämtern, wo er seine Berufsanerkennung erledigen musste, angeschrien zu werden.
Diese Erfahrungen sind kein Einzelfall, erklärt Higinio Fernández Sánchez, der an der Universität von Alberta zu Migration von Gesundheitspersonal promoviert hat. Trotzdem sei Deutschland gerade ein Modeland für Pflegekräfte. Higinio spricht von einem regelrechten „German Dream“. Der wird auch über Social Media befeuert, wo Influencer wie Herbert Otoniel Perez Victoriano von ihrem Alltag als Pfleger in Deutschland erzählen und ihren Kolleg*innen in Mexiko Tipps für die Bewerbung in Deutschland geben. „Herbert ist richtig berühmt mit seinen Posts und Videos über die Arbeit im Krankenhaus, wo es alles im Überfluss gibt, im Gegensatz zu Mexiko, wo oft Handschuhe oder Medikamente fehlen“, meint Higinio Fernández Sánchez.
In Mexiko sind feste Anstellungen rar
Dabei gibt es in Mexiko auch viele Pflegekräfte, die im Traum nicht ans Auswandern denken würden. Das ganze Team auf der Intensivstation vom öffentlichen Krankenhaus in Chihuahua zum Beispiel. Hier muss sich eine Pflegekraft um zwei Patient*innen kümmern, ein Betreuungsschlüssel, von dem Pflegekräfte in Deutschland oft nur träumen können. Alle haben feste Arbeitszeiten, Überstunden gebe es selten, und die Stimmung im Team sei gut, erzählen sie. Das Problem: Diese festen Stellen sind rar. Gerade für studierte Pflegekräfte sei es schwierig, eine der heiß begehrten Stellen zu ergattern, denn Krankenhäuser stellten häufig eher Leute mit Berufsausbildung als mit Studium ein – eine große Kostenersparnis, erklärt Higinio Fernández Sánchez. In den letzten Jahren wurden sozialversicherungspflichtige Anstellungsverhältnisse zunehmend durch prekäre Vertretungsverträge ersetzt – jederzeit kündbar und ohne Rentenansprüche. Mit der Zahlungskrise der 1980er-Jahre begann in Mexiko eine Neoliberalisierung im Gesundheitssystem, die noch brutaler als in Deutschland war. Das wollte Präsident Andrés Manuel López Obrador endlich ändern. Zu Beginn seiner Amtszeit legte er große Reformpläne vor, die jedoch bislang kläglich scheiterten oder wieder verworfen wurden.
Deutschland wirbt mit einem „Triple Win“, aber die Gewinne sind ungleich verteilt
So sind die Anwerbeprogramme heute vor allem für diejenigen attraktiv, die trotz – oder wegen – ihrer guten Ausbildung in Mexiko keine Stelle finden. Stimmt also die Erzählung vom triple win, mit der Deutschland seine Anwerbeprogramme bewirbt? Demnach sei die Anwerbung ein dreifacher Gewinn: für Deutschland, das Pflegekräfte gewinne, für das Partnerland, das seine überschüssigen Fachkräfte loswerde und damit seinen Arbeitsmarkt entlaste, und für die Pflegekräfte selbst, auf die ein höheres Einkommen und wertvolle Erfahrungen warten. Higinio Fernández Sánchez gibt zu bedenken, wie ungleich die Gewinne jedoch verteilt sind: „Mexiko investiert in die Ausbildung von Pflegefachkräften, und Deutschland profitiert davon, weil es selbst nicht in die Ausbildung investieren muss.“ Letztlich schöpfe Deutschland also den Profit ab, für den mexikanische Steuerzahler*innen den Grundstein gelegt haben. Um etwas mehr Gleichgewicht herzustellen, schließt sich Higinio Fernández Sánchez der Forderung des Weltbunds der Krankenpflegekräfte an: Reichere Länder sollten in Ländern, aus denen sie Personal anwerben, die Ausbildung von Pflegekräften und die Gesundheitssysteme finanziell unterstützen.
Für Gerardo Aguirre war im Februar 2021 das Maß voll. Er reichte beim Universitätsklinikum Bonn die Kündigung ein und ging zurück nach Mexiko. Nur drei Tage später hatte er schon einen neuen Job. Mit seiner Arbeit im Gefängniskrankenhaus ist er zufrieden, und trotzdem guckt er sich schon wieder nach Stellen in Deutschland um, weil ihm das Land und die Sprache so gut gefallen. Er hatte schon mehrere Bewerbungsgespräche, viele hätten ihn gerne genommen, aber er hat immer wieder abgesagt: „Ich frage immer nach einem Beispieldienstplan. Ich kann ohne Probleme 30 Tage am Stück arbeiten, aber ich brauche eine feste Schicht, sonst kommt mein Körper durcheinander. Ich weiß, dass die Unternehmen das machen könnten, wenn sie wollten. Sie wollen nur nicht.“
Einen Audiobeitrag zu diesem Thema findest du hier.