In den letzten Jahren wurde viel über die Uiguren gesprochen, einer islamischen Minderheit, die in der westlichen Region von Xinjiang lebt und seit Jahren systematischer Diskriminierung auf ethno-religiöser Ebene ausgesetzt ist. Doch die ethnisch-kulturelle Gruppe, die seit jeher im Visier der chinesischen Behörden steht, ist das tibetische Volk.

Die tibetische Frage geht auf das Jahr 1950 zurück, als Maos Armeen in Tibet einmarschierten. Im Jahre 1951 wurde das Siebzehn-Punkte-Abkommen vereinbart – den Chinesen als Vertrag zur friedlichen Befreiung Tibets bekannt – auf dessen Grundlage die Tibeter die chinesische Staatshoheit anerkannten und einem Armeekontingent den Einzug nach Lhasa gestatteten, um die schrittweise Einführung von Reformen zur Integration Tibets in die Volksrepublik China vorzunehmen, darunter die Abschaffung der Leibeigenschaft. Stattdessen verpflichteten sich die chinesischen Behörden, den Rest des Landes nicht zu besetzen und sich nicht in die Innenpolitik einzumischen, deren Amtsführung der tibetischen Regierung überlassen wurde, sondern alle Beziehungen Tibets zum Ausland zu übernehmen. Die Vereinbarung wurde zu einem späteren Zeitpunkt von der Gegenpartei aberkannt.

Der Volksaufstand von Lhasa gegen die chinesische Regierung im Jahr 1959 wurde von den Truppen Pekings blutig niedergeschlagen, was etwa 65.000 Opfer forderte und weitere 70.000 Menschen wurden verschleppt. Das zwang viele dazu, darunter den Dalai Lama (politischer und spiritueller Führer), zu fliehen und die Einladung der Regierung in Neu-Delhi anzunehmen, um in Indien Zuflucht zu suchen. Nach der chinesischen Annexion und dem gescheiterten Aufstand im Jahr 1959 wurde die tibetische Regierung aus dem Exil gezwungen, von ihrer Residenz in Lhasa, dem Potala Palast, in ihre Residenz in Dharamsala in Indien umzuziehen. Der Dalai Lama ist nicht mehr in sein Land zurückgekehrt. Tibet wurde aufgeteilt, ein großer Teil seines Gebietes wurde anderen chinesischen Provinzen zugeteilt, während der verbleibende Teil im Jahr 1964 zur autonomen Region von Tibet wurde, einer Provinz Chinas mit Sonderstatus.

Leider führte Maos „Kulturrevolution“ (1965-1976) dazu, dass Studenten und chinesische Extremisten alle Formen des Buddhismus als „konterrevolutionär“ verurteilten und viele Klöster, Tempel und Kunstwerke zerstört wurden. Von da an intensivierte sich die Kolonisierung Tibets allein mit dem Ziel, das ganze Hochland zu „chinesisieren“ und der Potala-Palast in Lhasa wurde von der chinesischen Regierung in ein Museum verwandelt.

Nach Jahrzehnten der Umsiedlung der chinesischen Bevölkerung nach Tibet und der gesamten technologischen Entwicklung der Region mit dem Bau von Autobahnen und einem hochmodernen Kommunikationsnetz, ausgestattet mit futuristischen Tunneln und sogar Hochgeschwindigkeitsbahnen, werden nun „Internatsschulen“ eröffnet, die jungen Tibetern und Tibeterinnen die Möglichkeit bieten, sich an die in China vorherrschende Han-Kultur anzupassen.

Die Methodologie erinnert an die in ähnlichen Internatsschulen in Australien, USA und Kanada angewandte Methode, wo in der Vergangenheit Tausende von Kindern der einheimischen Bevölkerung ums Leben kamen, und wo diejenigen, die überlebten, sich der „christlichen und englischsprachigen Kultur“ unterwerfen mussten, die den neuen Generationen aufgezwungen wurde und die schließlich ihre Wurzeln vergaßen: ein Trauma, das in den Köpfen und Seelen von Millionen dieser Menschen in den genannten Ländern noch sehr lebendig ist.

Die chinesische Obrigkeit hat den Zerfall der Sowjetunion stets als ein Scheitern Russlands beim Russifizierungsprozess der autonomen Republiken betrachtet. Obwohl China seitdem von der Notwendigkeit überzeugt ist, die Minderheiten zu chinesisieren, um nicht in die Falle zu tappen, in die die Sowjetunion geraten ist, begann erst mit Xi Jinping eine Systematisierung dieser Prozesse der Chinesisierung der Minderheiten. Xi hat die Chinesisierung ethnischer Gruppen, Kulturen und Religionen zu einem Eckpfeiler seiner Innenpolitik gemacht.

Man schätzt, dass etwa eine Million tibetischer Studenten in „Internatsschulen“ untergebracht sind – wenn auch die Zahlen nicht bestätigt sind. Dort haben die Regierungsbehörden Studien- und Ausbildungsprogramme vorbereitet, die darauf abzielen, die Bindungen, die diese Kinder und Jugendlichen nicht nur zu ihrer eigenen Familie, sondern auch und vor allem zu ihrer eigenen Ethnie, Kultur und Religion haben, zu lösen.

Der Grundgedanke besteht darin, die Tibeter vom tibetischen Buddhismus zu trennen, ein Ausdruck, der in buddhologischen Studien und in der Religionsgeschichte jene spezielle Form des Mahayana/Vajrayana-Buddhismus bezeichnet, die in der tibetischen Gegend existiert, besonders die Gelug-Schule (die Schule der Gelbmützen), das heißt, die jüngste Schule des tibetischen Buddhismus, die im 14. Jahrhundert von Lama Tzong Khapa gegründet wurde, und die den Dalai Lama als spirituelle und politische Bezugsfigur sieht.

Offensichtlich ist die Entscheidung, diese Internatsschulen zu besuchen, nicht frei, so wie sie es zu ihrer Zeit in Australien und Kanada nicht war. Die Kinder werden häufig gezwungen, ihr Zuhause zu verlassen und im frühen Alter in Schulen gebracht – im Alter von vier Jahren sind sie bereits weit weg von ihren Familien. Im Mittelpunkt des Systems, das auf die Chinesisierung dieses Teils Chinas abzielt, steht die Frage der Sprache.

Der religiöse Aspekt hat sich dank mehr oder weniger klarer Eingriffe durch Infiltration und Überwachung normalisiert, wie bei allen anderen Religionen im Lande auch: wie der Kampf um die Einsetzung des Pachen Lama zwischen der tibetischen Exilregierung und der chinesischen Regierung. Stattdessen ist die Sprache unter allen kulturellen Gegebenheiten der tibetischen Hochebene der entscheidende Aspekt, denn sie ist das, was die verschiedenen Gemeinschaften und Gruppen wirklich verbindet.

Die tibetische Sprache hat nichts mit dem Mandarin gemein und ist ein Element, das die Weiterführung einer exakten Identität gewährleisten würde. Dies ist der Aspekt, den man von Anfang an innerhalb der Internatsschulen zu ersetzen versucht.

Nach Jahrzehnten der ästhetischen und infrastrukturellen Umgestaltung Tibets und der Umsiedlung vieler ethnischer Han-Chinesen auf das tibetische Hochland, stellt das, was nun als systematische und zwangsmäßige Methode der „Han-Kulturalisierung“ aussieht, den entscheidenden Wendepunkt für die endgültige Umgestaltung Tibets dar, das die Regierung Pekings stets als Teil von Großchina betrachtet hat.

Über die Kolonisierung Tibets und den tibetischen Kulturmord wussten die Tibeter bereits seit der prophetischen Erscheinung Bescheid, die dem tibetisch-buddhistischen Mönch Padmasambhava aus dem 8. Jahrhundert zugeschrieben wird. Darin heißt es: „Wenn der eiserne Vogel fliegt und die Pferde auf Rädern laufen, wird der Dharma in das Land des roten Mannes kommen und die Tibeter werden über das ganze Land verstreut sein.“

Die Übersetzung aus dem Italienischen wurde von Doris Fischer vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige! 


Quelle

https://www.cittanuova.it/335649-2/?ms=003&se=020

  1. Die Leibeigenschaft war eine in Tibet vollgültige Rechtsinstitution, von der buddhistische Klöster Gebrauch machten.
  2. Benannt nach dem Berg Potala, dem Wohnsitz von Avalokitesvara, dem Bodhisattva des großen Mitgefühls. Der Potala Palast war die Hauptresidenz des Dalai Lama, bis der 14. Dalai Lama nach Dharamsala floh.
  3. Reuelos: Kevin Annett und Kanadas Völkermord – Der Völkermord von Kanada https://www.youtube.com/watch?v=swGEK8duSiU
  4. Der Begriff, mit dem sich tibetische Buddhisten auf ihren religiösen Glauben und ihre kulturelle Praxis beziehen, heißt Chos (Aussprache: ciö), die tibetische Übersetzung des Sanskrit-Begriffs Dharma.