Rauhnächte, Weihnachtswünsche und Neujahrsvorsätze sollen unser Leben ändern. Doch für eine wirkliche Erneuerung fehlt ein sehr wichtiges Instrument: das ungeliebte Gefühl der Scham. Nicht Scham als Anpassungsdruck des Kollektivs. Sondern Scham als tiefe und erschütternde Berührung mit unserem Innersten. Die Samstagskolumne.
VON CHRISTA DREGGER
Ich möchte eine Welt sehen, wo ein Kriegsherr einem Opfer gegenübersteht – und fühlen kann, was er ihm angetan hat. Ich möchte eine Welt sehen, wo dieser Mensch (ob Kriegsherr oder Mitläufer, Folterer oder Schreibtischtäter…) vor seiner Scham nicht davonläuft – sondern die Verantwortung dafür übernimmt, sich zu verändern. Ich möchte eine Welt sehen, wo wir alle uns von den Konsequenzen unserer Entscheidungen, Taten und Unterlassungen treffen lassen – und uns trotz unserer Verfehlungen lieben und erneuern können.
Wie fast alles in unser Zeit ist auch die Scham pervertiert worden. Scham ist ein Werkzeug des Kollektivs geworden, uns zur Anpassung zu bringen. Sei es der mittelalterliche Pranger, das gutbürgerliche «Was sollen die Nachbarn sagen?», die lächerliche Schulstrafe des Eckestehens oder die herbeigeschriebene Flugscham. (Nur im Nebenbei: So viel wurde über Flugscham gesprochen – sowenig sanken die Passagierzahlen – es handelt sich wohl eher um ein Schampflästerchen auf unserem verordneten Klimagewissen.)
Wie bequem für alle Herrschenden: Wir tragen unseren eigenen Richter in uns. Abweichungen von Erwartungen und Sollwerten werden von dem uns innewohnenden Gefühl der Peinlichkeit verurteilt und – wo nicht korrigiert, da wenigstens schamhaft verborgen.
Auch die Scham über den sich entwickelnden sexuellen Körper gehörte äonenlang dazu: Brüste, Menstruation oder auf männlicher Seite die ersten Erektionen – all das war irrsinnig peinlich. Scham machte Generationen von Frauen fromm und folgsam, immer in Stress, nicht zu dick, zu laut, zu faul, zu fordernd, zu lustvoll zu sein. Und Männer waren damit beschäftigt, die Scham über ihr Begehren mit Aggression zu übertönen.
Es lohnt sich, echtes Schämen wieder zu lernen.
Scham und Peinlichkeit sind – wie Angst – intern eingebaute Bestrafungsmethoden und Kontrollinstrumente jeder autoritären Gesellschaft – von den Blut- und Ehre-Imperien des Altertums bis in die Moderne mit ihrem Trend zur Selbstoptimierung.
Von dieser Scham sollten wir uns wirklich befreien. Doch daneben gibt es eine gesunde Scham. Sie ist nicht das Gesetz des Kollektivs in uns. Sie berührt und erschüttert unser ureigenes, tiefstes Ich. Und zwar manchmal so tief und schmerzhaft, dass wir sie kaum aushalten… und meilenweit davor fliehen wollen.
Unsere politischen Anführer sind ein Spiegel dieser Schamflucht. Wer will schon Regierungschefs, die uns an dieses unangenehme Gefühl erinnern, das wir mit Schwäche verwechseln? Ein Netajanhu wäre nicht gewählt worden, wenn er zur Scham fähig wäre. Lange ist es her seit Willi Brandts Warschauer Kniefall 1970. Seither gilt in der Politik: Mehr desselben. Wenn mein Rachefeldzug den Feind gestärkt hat, dann braucht es einen weiteren, stärkeren Rachefeldzug. Wenn Waffen keinen Frieden bringen – dann braucht es eben mehr Waffen.
Unsere natürliche Scham-Fähigkeit ist heute so ausgeleiert wie eine alte Unterhose. Wer schämt sich schon noch – wo Peinlichkeiten in allen Talkshows zelebriert und Privates breitgetreten wird? Wer schämt sich schon noch seiner kleinen Vergehen, wenn Anführer täglich der Lügen überführt werden – wenn gehorsam heischende Kirchenväter generationenlang Kinder missbrauchen – wenn Gesundheits- und andere -minister mit Pandemieängsten Millionengeschäfte machen?
Nur in Selbstliebe und Selbstakzeptanz können wir echte Verantwortung für unser Tun übernehmen.
Doch es lohnt sich, das Schämen wieder zu lernen. Wirkliche Scham ist die Berührung mit unserem intimsten Kern. Scham entsteht nicht nur bei Verfehlungen. Haben Sie schon einmal ein Kind «erwischt», das Ihnen heimlich etwas sehr Schönes vorbereiten wollte? Haben Sie schon einmal jemanden bei einem authentischen Liebesausdruck «ertappt», wo auf einmal seine Seele wie entblösst war?
Während ich diese Zeilen schreibe, hat mein Liebster Musik aufgelegt und tanzt versonnen für sich allein im Wohnzimmer. Das ist schön. Auf einmal merkt er, dass ich ihn beobachte. Was er jetzt kurz fühlt, empfinde ich über meine Spiegel-Hormone: Scham. Aber eine freudige: Er fühlt sich in seiner Schönheit gesehen. (Es ist nicht leicht für ihn, jetzt seine Bewegungen so weiterzuführen, als sei er allein.)
Scham ist eine Berührung mit unserem gesunden Ich-Kern, mit unserer ureigenen Individualität: Dieses ungewohnte Gefühl ist unheimlich. Wir ertragen es kaum. Das Ich, das sich da zeigt, ist das unnarzisstischste Ich, das wir uns vorstellen können. Scheu wie ein Reh. Kaum geboren. Wissen Sie was? Ich glaube, es ist Selbstliebe. Und die brauchen wir. Nur in Selbstliebe und Selbstakzeptanz können wir echte Verantwortung für unser Tun übernehmen.
Wenn wir in Selbstliebe jemandem begegnen, dem wir durch unser Tun oder Unterlassen geschadet haben – wenn wir der Begegnung nicht ausweichen, etwa durch Selbstverurteilung oder Selbstmitleid, sondern uns wirklich davon treffen lassen, dann «könnten wir in den Erdboden versinken». Es fühlt sich schlimm an. Wir «verlieren unser Gesicht». Genau das ist ein unglaublich wertvoller Moment. Der Erdboden: Das ist da, wo wir herkommen. Hier sind unsere Wurzeln. Wurzel = Radix. Deshalb spreche ich von radikaler Scham, die wir brauchen.
Gefühlsexpertin Vivian Dittmar schreibt: «Scham als Kraft wendet den Blick nach innen, auf uns selbst. Wir bemerken, dass wir etwas tun oder getan haben, was wir selbst als unangemessen oder falsch ansehen. Wir können so unsere Grenzen, Fehler und Schwächen erkennen. Mit dieser Erkenntnis sind wir in der Lage, das was geschehen ist, zu korrigieren und die Verantwortung für etwas zu übernehmen, wo es uns nicht gelungen ist, zu unseren Werten zu stehen. Wenn wir diese Art, auf uns selbst zu schauen, immer mehr integrieren, sind wir mit der Zeit in der Lage, uns liebevoll in unserer Unvollkommenheit anzunehmen. Wir lernen, demütig zu sein.»
Ich will eine Welt sehen, wo wir als Menschen Verantwortung für unser Tun übernehmen und uns – in radikaler Selbstliebe – erneuern. Ich will eine Welt sehen, wo wir unsere Anführer auf ihre Verantwortung ansprechen und von ihnen eine Umkehr, ein Umlernen verlangen. Ich will, dass wir diesen Erdboden der Scham in uns kennenlernen. Und – um es mit Mercedes Sosa zu sagen: «Alles, um was ich Gott bitte, ist, im Angesicht des Krieges nicht gleichgültig zu sein».