Werner Vontobel für die Online-Zeitung INFOsperber
Das fängt ja gut an: In seiner ersten Ausgabe in diesem Jahr hat uns der Tages-Anzeiger auf der Frontseite in dicken Lettern darüber informiert, dass der «Mindestlohn in Genf der Wirtschaft bisher nicht geschadet» habe. Andere Medien berichten, dass die Wirtschaft den Mindestlohn «verkraftet» habe.
Alle beziehen sich auf eine Studie, wonach der Genfer Mindestlohn von aktuell 24.32 Franken pro Stunde bisher nicht zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit geführt habe.
Das ist insofern interessant, als viele bisher geglaubt haben, dass zu hohe Mindestlöhne zu Arbeitslosigkeit führen. Was allerdings von Dutzenden anderen Studie bereits widerlegt worden ist.
Zwischen den Zeilen
Doch die wirklich interessante, ja sogar skandalöse Information dieses Artikels – der so auch in vielen anderen Zeitungen erschienen ist – steckt zwischen den Zeilen: Offenbar denkt heute niemand mehr, dass die Wirtschaft dazu da sei, allen, die für sie arbeiten, ein anständiges Einkommen zu ermöglichen.
Heute gilt, so steht es zwischen den Zeilen, genau das Gegenteil: Wichtig ist nur noch die Frage, ob ein anständiges Einkommen für die Wirtschaft schädlich beziehungsweise noch zu verkraften sei. Anscheinend ist dieser Punkt mit 24.32 Franken pro Stunde noch nicht erreicht – was allerdings noch genauer geklärt werden muss. Ist das wirklich eine weitere Studie wert? Müssten die Ökonomen nicht eine weit wichtigere Frage stellen?
Rechnen wir: Ein anständiger Lohn sollte es erlauben, eine Familie zu gründen, zwei Kinder grosszuziehen und so den Fortbestand der Menschheit sicherzustellen. Das durchschnittliche bezahlte Arbeitspensum in der Schweiz beträgt 1545 beziehungsweise für ein Doppelverdiener-Paar 3090 Stunden. Diese gut 3000 Stunden ergeben – multipliziert mit 24.32 Franken – rund 75’000 Franken pro Jahr oder 6300 Franken pro Monat. Nach Arbeitnehmerbeiträgen für AHV und 2. Säule bleiben noch etwa 5400 Franken. Wobei zu sagen ist, dass sich mit diesen Beiträgen keine Rente finanzieren lässt, von der man leben kann.
Es bleiben 2600 Franken
Bei diesem Nettolohn zahlt man in Genf keine Einkommenssteuer. Das heisst allerdings auch, dass der Arbeitgeber, der nur Mindestlöhne zahlt, die Kosten für öffentliche Dienste auf den Staat abwälzt. Krankenkasse und Franchise kosten die Familie mindestens 1200 Franken monatlich. Bleiben 4200 Franken. Für einen anständigen Lohn sollte man in zumutbarer Nähe des Arbeitsorts wohnen können. Die billigste Drei-Zimmer-Wohnung, die aktuell in Genf ausgeschrieben ist, kostet 1600 Franken. Bleiben 2600 Franken für Nahrung, Kleider, Wohnungseinrichtung, Körperpflege, Transport, Unterhaltung, TV und Internet, von der Kinderkrippe ganz zu schweigen.
Wir müssen gar nicht detailliert weiterrechen, das Fazit ist ohnehin klar: Mit dem Mindestlohn kann man keine Familie unterhalten. Versucht man es dennoch, ist die Gesundheit schnell ruiniert. Der Mindestlohn schadet – dem Empfänger.
In keinem der vielen Artikel über den Genfer Mindestlohn wird die Frage erörtert, ob und wie gut man von einem solchen Lohn leben kann. Stattdessen haben alle Medien kritiklos die Fragestellung der Studienautoren übernommen: Schadet ein «so hoher» Mindestlohn der Wirtschaft?
Das Kriterium, an dem sie diesen Schaden messen, ist die Beschäftigung beziehungsweise die Arbeitslosigkeit. Demnach besteht der Hauptzweck der Veranstaltung namens Wirtschaft offenbar darin, möglichst vielen Leuten Arbeit zu verschaffen, sei diese auch noch so schlecht bezahlt.
Drehen wir den Spiess einmal um: Würde es der Wirtschaft schaden, wenn alle nur noch den Mindestlohn erhielten? Wie viele Arbeitsplätze gingen dann verloren, wenn sich niemand mehr ein Auto, ein Abo im Fitnessclub, ein paar Tage Ferien, einen Besuch im Restaurant leisten könnte? Die Antwort ist klar: Tiefe Löhne für alle oder auch nur für viele wären ein ökonomisches Desaster. Das will niemand.
Eine verkappte Klassengesellschaft
Die Botschaft zu Jahresbeginn ist klar: Wir sind eine verkappte Klassengesellschaft: Es gibt die Wirtschaft der einen und die der anderen. Die Ökonomen, Journalisten und Gewerbetreibenden da oben fragen sich besorgt, welchen Schaden «ihre» Wirtschaft erleiden könnte, wenn man denen da unten ein halbwegs anständiges Leben ermöglichen würde.