Es ist möglich, politische Parteien zu ergänzen, ihre Macht einzugrenzen und die Politik aus ihrer dysfunktionalen Logik zu befreien – mit mehr, statt mit weniger Demokratie.

Ein Gastbeitrag von Ilse Kleinschuster

Erfolgreiche liberale Gesellschaften (wie ‚wir‘ doch eine sind!?) haben noch ihre eigene Kultur und ihr eigenes Verständnis vom guten Leben. Was es nun aber braucht, um eine solch liberale Gesellschaft zukunftstauglich zu erhalten, darüber hab‘ ich mir in letzter Zeit viel Gedanken gemacht. Ich habe beobachtet, dass viele klagen, dass es mit ‚uns‘ so nicht weitergehen könne, noch dazu wo jetzt eine zunehmende Anzahl von Menschen immer weniger Vertrauen in die Regierung hätten. Und da hab‘ ich mich gefragt, warum und inwieweit die demokratische Bedeutung von Parlamenten zunehmend in Frage gestellt wird.

In Anbetracht der vielen Anzeichen von Zynismus, Nörgelei, Ressentiments und Protesten wütender Bürger*innen gegen Politiker*innen, finde ich das nicht mehr „normal“ – oder besser, befürchte ich, dass diese Entwicklung unserem Parlament unheimlichen Schaden zufügt. Darüber hinaus habe ich beobachtet, dass es innerhalb unseres „Hohen Hauses“ (ich kann hier nur aus meiner persönlichen Sicht sprechen, d.h. wie ich es aus den ORF-TV-Übertragungen aus dem Parlament ersehe) nicht gerade sehr diszipliniert zugeht, ja, dass auch dort Korruption und Lobbyismus gedeihen. Ich glaube daraus schließen zu können, dass das in vielen Parlamenten der Welt nicht anders ist. Dass dem Anspruch, die Exekutive diene dem Volk, nicht mehr gerecht werden kann. Dass dieser Anspruch kaum mehr von demokratischer Bedeutung ist. Davon mögen so manche profitieren – ich vermute, die befinden sich in einer beängstigend steigenden Mehrheit! Es interessiert mich daher jener wachsender Trend zu Initiativen gegen Phantomparlamente, die der Möglichkeit nachgehen den herrschenden Trend umzukehren.

Vor Jahren gab es im Österreichischen Parlament auf Initiative von Frau Ministerin Prammer eine Enquete zu dieser Frage, an der sich einige Initiativen aus der engagierten Zivilgesellschaft beteiligt haben (darunter war damals auch der Verein IG-Eurovision). Ihre Vertreter haben jeweils Ideen zu „mehr“ Demokratie vorgestellt, darunter war auch das ausgearbeitete Konzept zu einer Form von „komplementärer“ Demokratie – was ist daraus geworden? Nun gut, immerhin haben wir jetzt – dem deutschen Vorbild folgend – einen Klimarat! Demnach sollen jetzt die Regierungsmitglieder – unverbindlich! – Berichte von Bürgerräten erhalten, deren Mitglieder per Losverfahren ermittelt wurden.

Wer aber nimmt in Österreich die an den Tagungen des Rates der Europäischen Union teilnehmenden Minister unter die Lupe, wie es ein mächtiger dänischer Ausschuss (samräd) tut. Oder wie wär’s, dem rumänischen Beispiel zu folgen, wo das Parlament jetzt – mit Hilfe von ION, einem intelligenten Roboter, der in der Lage sein soll, die „Intelligenz“ von Politikern zu verbessern – digital mit Vorschlägen und Beschwerden der Bürger versorgt wird.

Mit Blick auf eine äußerst ungewisse Zukunft hat kürzlich das Europäische Parlament das erste KI-Gesetz der Welt ausgearbeitet, ein positives Beispiel für Repräsentation. Was aber noch sensationeller klingt, ist der Beschluss des neuseeländischen Parlaments, demzufolge Ökosystemen „die Rechte, Befugnisse, Pflichten und Verbindlichkeiten einer juristischen Person“ eingeräumt werden sollen. Und das grenzüberschreitende nordische Netzwerk der samischen Parlamente, das Samediggi, ist doch auch ein gutes Beispiel für interparlamentarische Zusammenarbeit. Es verfügt über Beratungsorgane, die den Auftrag haben, die Selbstbestimmung der Ureinwohner*innen zu fördern und zu bewahren! Das sind erstaunliche, teilweise noch experimentelle Formen der Partizipation – sie zeigen, wie es möglich ist, politische Parteien zu ergänzen, ihre Macht einzugrenzen und die Politik aus ihrer dysfunktionalen Logik zu befreien.

Weniger wichtig als die Aufgabe der gewählten Politiker *innen ihre Wähler *innen zu vertreten, scheint mir heute ihre Aufgabe als Whistleblower*innen im Namen des Gemeinwohls zu fungieren: Alarm zu schlagen, vor schlimmen Problemen zu warnen und Gesetze mit dem Ziel zu verabschieden, willkürliche Machtausübung einzudämmen – oder auch zu verbieten. Sie wären dann – in Ergänzung zu konstruktivem Qualitätsjournalismus – in ihrer spezialisierten Ausübung öffentlicher Kontrolle als „Watchdogs“ zu bezeichnen. Sie könnten vielleicht räuberische Macht zügeln, sofern sie über genügend Ressourcen verfügten.

Erst wenn wir es schaffen , „Watchdog“-Parlamente entstehen zu lassen, wird es möglich sein, die Ketten von Majoritätsherrschaft zu sprengen, Minderheiten wieder Stimme und Rechte zu gewähren und so das Wahlrecht auf bedrohte Spezies, benachteiligte Vorfahren und künftige Generationen zu erweitern. Erst solche Parlamente wären wirklich imstande sich um die Lösung von langfristigen Problemen zu bemühen, die jetzt durch das kurzfristige Denken in Wahlzyklen in den Hintergrund gedrängt werden.

Erst, wenn wir es auf diesem Weg schaffen, Demokratie neu zu definieren, indem wir den demokratischen Gedanken mit der Garantie bürgerlicher Freiheit von räuberischer Macht in all ihren abstoßenden Ausprägungen, einschließlich unseres rücksichtslosen Umgangs mit der Erde auf – und von – der wir leben, verbinden, können wir der Menschheit Überlebenschancen ausrechnen.


Ilse Kleinschuster ist Mitglied im Koordinationsteam des Aktionsbündnis für Frieden, aktive Neutralität und Gewaltfreiheit AbFaNG.

Der Originalartikel kann hier besucht werden