Die aufstrebende Wirtschaftsmacht Indien verfolgt angesichts der Russland-Sanktionen des Westens eine pragmatische Politik, wodurch es unter anderem einen immensen finanziellen Nutzen ziehen kann. Vor allem durch den Import von russischem Rohöl, seiner Verarbeitung und dem anschließenden Export von Erdölprodukten nach Europa erzielten die Inder 2023 Jahr Rekordwerte.
Von Alexander Männer
Indien gilt unbestritten als ein sehr selbstständiger Akteuer, der die aktuellen Turbulenzen in der Weltpolitik pragmatisch betrachtet und für sich zu nutzen weiß. So konnte das asiatische Land, das zu den größten Rohölimporteuren der Welt zählt, angesichts des Konfliktes zwischen dem Westen und Russland seine Einfuhren von preiswertem russischem Rohöl in den vergangenen zwei Jahren drastisch steigern.
Allein im vergangenen Jahr haben sich die indischen Ölimporte aus Russland im Vergleich zu 2022 mehr als verdoppelt. Dadurch avancierte Indien zu dem zweitgrößten Abnehmer russischer Öllieferungen, wobei die indischen Raffinerien jene Lieferungen abnehmen, die von den Europäern und US-Amerikanern aufgrund den westlichen Sanktionen gegen Moskau offiziell gemieden werden.
Laut russischen Angaben beträgt der Anteil Indiens an den russischen Ölausfuhren mittlerweile knapp 40 Prozent, während auf Europa nur etwa fünf Prozent entfallen. Interessanterweise hat Indien in dieser Phase auch als Exporteur von Ölprodukten auf dem Weltmarkt beträchtlich zugelegt, wie Experten weltweit bereits Ende 2022 und im vergangenen Jahr konstatierten.
Es ist nämlich so, dass die Inder infolge der antirussischen Sanktionen beim Kauf von Rohöl aus Russland Preisnachlässe erhalten, dieses Öl danach hauptsächlich zu Kraftstoffen verarbeiten und die Endprodukte anschließend zu weitaus höheren Preisen als für die eigenen Importe auf dem europäischen oder US-amerikanischen Markt veräußern.
In Anbetracht dessen hatten Indiens Ausfuhren von Diesel, Kerosin und anderen Ölprodukten insbesondere nach Europa bereits 2022 stark zugelegt. Damals wuchsen die Lieferungen im Jahresvergleich um rund 20 Prozent, wobei auf die EU etwa 50 Prozent aller indischen Kerosinausfuhren entfielen.
Rekordexport 2023
Medien zufolge konnten im vergangenen Jahr neue Rekordwerte erreicht werden. Wie die britische Zeitung The Independent dazu vor Kurzem berichtete, haben die indischen Mineralöl-Unternehmen 2023 deutlich mehr Exporte nach Europa getätigt als im Vorjahr. Demnach stiegen die EU-Importe von Erdölprodukten aus Indien um 115 Prozent, von 111.000 Barrel pro Tag im Jahr 2022 auf 231.800 Barrel pro Tag 2023. Laut Analysten von Kpler, einer renommierten Agentur für globale Handelsinformationen, ist dies der höchste ermittelte Wert der letzten sieben Jahre und wahrscheinlich der höchste Wert aller Zeiten.
Gleichzeitig waren die indischen Importe von russischem Rohöl um etwa das Doppelte angewachsen sein, was wiederum bedeutet, dass die Verbraucher in Europa 2023 trotz der Sanktionen wahrscheinlich erhebliche Mengen an Benzin, Diesel, Kerosin und anderen Erdölprodukten erhalten haben, die aus Russland über Indien kommen, so die Zeitung.
Insgesamt sollen im vergangenen Jahr 20 der 27 EU-Länder russisches Öl über Indien gekauft haben, heißt es. Der größte Abnehmer für indische Erdöllieferungen in der EU sind die Niederlande, die als ein Umschlagplatz für den globalen Handel mit Öl und Ölprodukten fungieren und etwa 24 Prozent der Exporte aus Indien beziehen. Ihnen folgen Frankreich mit 23 Prozent, Rumänien mit zwölf Prozent sowie Italien und Spanien mit jeweils elf Prozent. Zudem importierten Deutschland und Belgien jeweils sieben Prozent der besagten Lieferungen.
Im Grunde verdeutlichten diese Zahlen, schreibt The Independet, dass die europäischen Länder nach wie vor sehr abhängig von Rohstoffen aus Russland seien. Wobei eine Abkehr von den russischen Lieferungen problematisch wäre, da dies zu einem sehr starken Preisanstieg und einem Ölmangel führen würde.
All dies hat Indien – wie schon angedeutet – in hohem Maße den Russland-Sanktionen des Westens zu verdanken, die seine zweifellos höchst lukrativen Importgeschäfte mit den russischen Ölunternehmen erst möglich gemacht haben. Und auch wenn viele westliche Politiker und Experten den russisch-indischen Ölhandel politisieren, so lässt sich dennoch konstatieren, dass Indien damit in erster Linie seine eigenen Wirtschaftsinteressen verfolgt und so zusätzliche Milliarden-Einnahmen verbuchen kann.