Nach dem Wahlsieg von Javier Milei in Argentinien steht das EU-Freihandelsabkommen mit dem Mercosur vor dem Scheitern. Die EU, einst größter Handelspartner des Mercosur, fiele noch weiter hinter China zurück.
Der Wahlsieg des Ultrarechten Javier Milei bei der Präsidentenwahl in Argentinien droht das von Berlin gewünschte Freihandelsabkommen der EU mit dem Mercosur endgültig zu verhindern. Milei hat angekündigt, Argentinien aus dem südamerikanischen Staatenbündnis hinauszuführen; ein Mercosur-Abkommen mit der EU wäre dann hinfällig. Zudem leugnet er den Zusammenhang zwischen menschlichem Handeln und dem Klimawandel, was das von Brüssel geforderte Zusatzabkommen zum Schutz des Regenwaldes zusätzlich in Frage stellt. Scheitern die Verhandlungen, die bereits seit fast einem Vierteljahrhundert geführt werden, dann stünden die Chancen der EU, ihren einstigen Einfluss in Südamerika zurückzuerlangen, noch schlechter als schon jetzt. Vor knapp drei Jahrzehnten war die EU noch der bedeutendste Wirtschaftspartner des Mercosur; jetzt liegt sie deutlich abgeschlagen hinter China und fällt immer weiter zurück. Pläne der EU-Kommission, das eigentlich bereits 2019 fertig ausgehandelte Freihandelsabkommen in zwei Teile aufzuspalten, um den bedeutenderen, handelspolitischen Teil mit qualifizierter Mehrheit in Kraft setzen zu können, stoßen in europäischen Parlamenten auf breiten Protest.
Weit zurückgefallen
Hintergrund für die Bestrebungen Berlins und der EU, das Freihandelsabkommen mit dem südamerikanischen Zusammenschluss Mercosur (Argentinien, Brasilien, Paraguay, Uruguay) nun endlich unter Dach und Fach zu bringen, über das seit 1999 verhandelt wird und das seit 2019 eigentlich nur noch ratifiziert werden muss (german-foreign-policy.com berichtete [1]), ist zum einen ihre zunehmende Schwäche in Lateinamerika. Im Jahr 1996 – kurz bevor die Freihandelsgespräche gestartet wurden – war die EU noch der größte Handelspartner des Staatenbundes mit einem Anteil von 24,5 Prozent an den Mercosur-Exporten sowie von 26,1 Prozent an den Mercosur-Importen.[2] Nummer zwei waren die Vereinigten Staaten. Der Aufstieg Chinas zum wichtigsten Handelspartner ganz Lateinamerikas außer Mexiko hat die Verhältnisse grundlegend geändert. So kam die EU im Jahr 2021 nur noch auf einen Anteil am gesamten Mercosur-Außenhandel von 16,2 Prozent knapp vor den USA mit 14,2 Prozent. Weit an ihr vorbeigezogen war die Volksrepublik mit einem Mercosur-Außenhandelsanteil von 27,2 Prozent.[3] War Deutschland im Jahr 2002 mit einem Anteil von 9,4 Prozent noch drittwichtigster Lieferant Brasiliens, des stärksten Mercosur-Staates, gewesen, so hielt es 2021 nur noch 5,1 Prozent – weit hinter der Nummer eins, China (22,8 Prozent).
Geschwächte Verhandlungsposition
Druck kommt unter anderem aus der deutschen Wirtschaft. So hieß es etwa im August in einer Analyse des unternehmernahen Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW) aus Köln, nicht nur sei das Handelsvolumen des Mercosur mit China in den zehn Jahren von 2012 bis 2022 um fast 95 Prozent auf 192 Milliarden US-Dollar angestiegen und übertreffe nun den Handel des Mercosur mit der EU um knapp 70 Milliarden US-Dollar.[4] Es falle zudem auf, „dass die Mercosur-Staaten sowohl nach China als auch in die EU eine ähnliche Warenpalette liefern“, insbesondere „mineralische Brennstoffe, Mineralöle und bituminöse Stoffe“; man stehe also in direkter Konkurrenz mit der Volksrepublik. Genau dasselbe treffe „auf der Importseite“ zu – „auch bei hochtechnologischen Produkten, auf die die EU spezialisiert ist“. Weil „mit China ein alternativer Handelspartner herangewachsen“ sei, seien die Mercosur-Staaten „viel weniger auf die EU angewiesen als früher“; zugleich aber könne die EU es sich „nicht leisten, den Zugang zu den Rohstoffen und Agrarprodukten der Mercosur-Staaten zu verlieren“. „Dies schwächt die europäische Verhandlungsposition im Ringen um das Freihandelsabkommen“, konstatierte das IW. Die Feststellung trifft auch über die Verhandlungen um das Freihandelsabkommen hinaus zu.
Kaum Alternativen
Hintergrund für das Bemühen, das Freihandelsabkommen rasch in Kraft zu setzen, ist zum anderen die Verschärfung des transatlantischen Machtkampfs gegen China. Zwar sind Berlin und die EU bemüht, ihr Chinageschäft nach Möglichkeit nicht allzu stark zu gefährden. Dies wird allerdings, spitzen sich der US-Wirtschaftskrieg gegen die Volksrepublik und die jüngsten EU-Sanktionspläne weiter zu, nur noch für eine beschränkte Zeit möglich sein. Um für den Fall einer harten Eskalation gerüstet zu sein, sind die europäischen Mächte um alternative Absatzmärkte, Produktionsstandorte und Lieferanten bemüht. Dabei nehmen sie unter anderem Lateinamerika im Visier, dessen größter und lukrativster Markt der Mercosur ist. Ein Scheitern wöge schwer. Zum einen ist längst auch ein Freihandelsabkommen des Mercosur mit China im Gespräch.[5] Zum anderen kommt die EU auch mit weiteren Plänen für Freihandelsabkommen nicht recht voran. Ein Abkommen mit Australien ist vor kurzem gescheitert (german-foreign-policy.com berichtete [6]). Die Verhandlungen über zwei weitere, die mit Indien sowie mit Indonesien geführt werden, kommen allenfalls schleppend voran. Auch die Ausweitung des Afrikageschäfts, um die sich Bundeskanzler Olaf Scholz Anfang dieser Woche auf einer Afrika-Konferenz bemühte, steckt fest.[7]
Unter Zeitdruck
Nun drängt auch bei dem geplanten Freihandelsabkommen mit dem Mercosur die Zeit. Die Mercosur-Staaten haben bereits im Sommer klargestellt, dass sie Zusatzforderungen der EU, die vor allem den Schutz des Regenwaldes betreffen, klar ablehnen. Umgekehrt dringen sie ihrerseits darauf, Nachbesserungen bei Regeln vorzunehmen, die für ihre Wirtschaft nachteilig sind.[8] Mittlerweile macht Paraguay Druck, das am 6. Dezember den Vorsitz im Mercosur übernehmen wird. Wenn die Verhandlungen bis zu diesem Datum nicht mit Erfolg beendet seien, werde er „die Gespräche im nächsten Halbjahr nicht fortsetzen“, teilte Ende September Paraguays Präsident Santiago Peña mit: „Ich bin sicher, dass wir sehr schnell ein Abkommen mit anderen Regionen erreichen werden.“[9] Die EU-Kommission erwägt nun, das Abkommen zur Beschleunigung des Verfahrens in einen handels- und in einen allgemeinpolitischen Teil aufzuspalten und dann ersteren zu ratifizieren; dazu reicht es, eine qualifizierte Mehrheit der Mitgliedstaaten und die Mehrheit im Europaparlament zu erlangen.[10] Dagegen allerdings haben jetzt 305 Abgeordnete aus dem Europaparlament und nationalen Parlamenten in einem Offenen Brief an EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen protestiert. Bei den Aufspaltungsplänen handle es sich um „Trickserei, um die demokratische Kontrolle von Handelspolitik zu umgehen“, erklärt die Grünen-Abgeordnete Anna Cavazzini.[11]
Torschlusspanik
Der Wahlsieg des Ultrarechten Javier Milei bei der Präsidentenwahl in Argentinien am vergangenen Sonntag verschlechtert die Chancen, das Abkommen in Kraft treten zu lassen, noch mehr. Milei hat im Wahlkampf nicht nur angekündigt, er werde mit „Kommunisten“ wie China, aber auch Brasiliens Präsident Luiz Inácio Lula da Silva nicht kooperieren. Dies träfe auch den Mercosur, aus dem Argentinien hinauszuführen er ebenfalls in Aussicht gestellt hat.[12] Damit stünde der Mercosur vor dem Abgrund; ein Abkommen mit der EU wäre dann wohl hinfällig. Sollte Milei seine Drohung nicht wahrmachen, dann stünde Brüssel dennoch vor erheblichen Schwierigkeiten: Milei bezweifelt, dass der Klimawandel mit menschlichem Handeln zusammenhängt und dass ein Umsteuern von Wirtschaft und Gesellschaft erforderlich ist. Damit schwinden nun auch noch die letzten Chancen, das von der EU verlangte Zusatzabkommen zum Schutz des Regenwaldes abzuschließen. Jetzt werden hektische Aktivitäten entfaltet, das Abkommen noch vor Mileis Amtsantritt am 10. Dezember in Kraft zu setzen. Bundeslandwirtschaftminister Cem Özdemir räumt ein, das Wahlergebnis in Argentinien zeige, „dass wir uns beeilen müssen“; „wenn wir … uns nicht kümmern um Brasilien, um die Mercosur-Staaten, um den Regenwald dort“, wird Özdemir zitiert, „dann werden es andere machen“.[13] Die EU bliebe dann außen vor.
[1] S. dazu Die Lateinamerika-Offensive der EU (III).
[2] Detlef Nolte: Regionalisierung statt Globalisierung? Der amerikanische Kontinent wächst zusammen. In: Institut für Iberoamerika-Kunde Hamburg, Brennpunkt Lateinamerika Nr. 11. Hamburg, 11. Juni 1999.
[3] Detlef Nolte: The European Union and Latin America: Renewing the Partnership after Drifting Apart. GIGA Focus Latin America Number 2. Hamburg, January 2023.
[4] Samina Sultan: Mercosur-Handel: Läuft uns China den Rang ab? iwkoeln.de 04.08.2023.
[5] Ding Gang: Promoting FTA talks with Mercosur to propel China-Paraguay cooperation. globaltimes.cn 17.08.2023.
[6] S. dazu Der Oberlehrer.
[7] S. dazu Zulieferer für die Energiewende.
[8] S. dazu Das BRICS-Bündnis als Alternative.
[9] Jürgen Vogt: Paraguay macht Druck. taz.de 26.09.2023.
[10], [11] Michael Sauga: Große Teile des EU-Parlaments wehren sich gegen Mercosur-Pläne. spiegel.de 20.11.2023.
[12] Milei says he’d reject ‘assassin’ China, take Argentina out of Mercosur. batimes.com.ar 16.08.2023.
[13] Milei kündigt Privatisierung von Staatsbetrieben an. tagesschau.de 20.11.2023.