Spirituell leben und sozial handeln: Erstmals erschien das wichtigste Buch der indischen Philosophin und Sozialaktivistin Vimala Thakar auf deutsch.
Die Schweizerin Renata Keller wies uns erstmals 2020 mit ihrem Film Im Feuer der tanzenden Stille auf eine eindrückliche Stimme aus Indien in unseren aufgewühlten Zeiten hin: Vimala Thakar. Nun sorgte sie dafür, dass im Sommer 2023 eines von Vimalas wichtigsten Bücher auf deutsch erscheinen konnte: Spirituell leben Sozial handeln. Revolutionäre Wege zu Ganzheit und Einheit.
Der Verlag schreibt zu dieser Autorin: Vimala Thakar (1923-2009) war eine indische Philosophin, revolutionäre Mystikerin und soziale Aktivistin, eine bemerkenswerte Persönlichkeit des 20. Jahrhunderts, die unerschrocken einen radikal unabhängigen Ansatz der Spiritualität und der Suche nach der Wahrheit verfolgte. Von allen religiösen Traditionen befreit, brachte sie die zeitlose Weisheit des Ostens mit dem rationalen Denken des modernen und liberalen Westens zusammen. Es war ihr ein Anliegen, die Menschen zu einem tiefen Verantwortungsbewusstsein wachzurütteln – mit dieser Botschaft reiste sie in über 35 Länder dieser Welt (mehr zu ihrer Vita hier).
Zu ganzheitlichen Lösungen übergehen
In jungen Jahren in der friedlichen Landreformbewegung Budhan in Indien auf den Spuren von Mahatma Ghandi engagiert, begegnete sie 1960 Krishnamurti, was ihr Leben radikal veränderte. Sie erkannte die volle Tiefe dessen, was ihr in den Jahren zuvor immer deutlicher selber aufgestiegen war: dass einzig die innere Arbeit mit dem eigenen Bewusstsein und die Transformation von Gewalt und Aggression in uns selber ein friedlicheres Leben auf dieser Erde bewirken können.
Im erwähnten Buch stellt sie fest, dass soziale Aktivisten meist nur das äussere Leben mit seinen ungerechten politischen Strukturen im Auge haben – während sich spirituell orientierte Menschen bloss für Transzendenzerfahrungen interessieren: «Die sozialen Aktivisten betrachten die spirituell Suchenden als selbstgenügsam, und diese wiederum halten jene für Gefangene ihres Aktivitätenwahns, die die Essenz des Lebens leugnet. (S. 29). Was jedoch unserer Zeit not tut, ist eine echte Integration von sozialem Handeln und Spiritualität auf einer tieferen Ebene, auf der Ebene unseres tiefsten Menschseins.»
Renata Keller zitiert in ihrem Vorwort Vimala Thakar:
In die Freiheit des Friedens und der Stille hineinzuwachsen
Ist nicht das Privileg weniger Auserwählter.
Es ist der natürliche Seinszustand eines jeden Menschen.
Wir brauchen die Freiheit nicht zu erschaffen. Sie ist da.
Sie ist die Substanz der Wirklichkeit.
Wir müssen lediglich das Falsche lautlos fallenlassen.
Wir schrecken vor der Freiheit zurück, weil es
in der Freiheit keine Zugehörigkeit gibt,
ausser – zu allem.
In Stufen (wieder) zur Ganzheit finden
Im ersten Kapitel dieses Buches geht Thakar zentralen Ursachen sozialer Missstände auf den Grund. Ein wesentlicher Teil besteht etwa darin, dass die Wurzeln der menschlichen Gewalt im Inneren jedes Menschen verborgen liegen – und dass diese Wurzeln der Heilung bedürfen, um in uns zu einer befriedeten Einheit zu finden.
Den Weg zu dieser Ganzheit (die Lektüre erinnert an das Integrale Bewusstsein, wie es z.B. auch Ken Wilber beschreibt) entfaltet Vimala Thakar in diesem Buch in vier Schritten:
Die Ganzheit entdecken.
Der Ganzheit vertrauen.
In Ganzheit handeln.
In Ganzheit leben.
Sie beschreibt in den gleichlautenden Kapiteln das ganze Spektrum menschlichen Daseins, angefangen z.B. bei «Dem Ego die Autorität absprechen» über «Männliche und weibliche Qualitäten ins Gleichgewicht bringen» und «Die Erde achten» bis zur «Neugestaltung der Gesellschaft» und dem Herauswachsen über das Begrenzte», um «Unser Potenzial zu verwirklichen».
Hoffnungsvolle Perspektiven in düsterer Zeit
Bücher wie diese sind Balsam in unserer polarisierten Welt, die in ihren Spezialisierungen und Spaltungen diese Einheit gründlich verloren hat. Verrohung und Aggression nehmen zu, weltweit und auch in unseren Gesellschaften – Resignation macht sich breit. Gemeinsinn verschwindet, indem sich alle nur noch um sich selber kümmern und in die eigene Blase zurückziehen. Aber Alternativen liegen bereit und warten darauf, von Mutigen ergriffen zu werden – um neu auch aufeinander zuzugehen.
Andersdenkenden zuhören, anstatt sie vom Eigenen zu überzeugen. Dieses soll durchaus eingebracht werden, jedoch lernoffen. Dies und manch Anderes sind nicht wohlfeile Rezepte, sondern tiefe Wahrheiten, die eigentlich natürlich sind. Hauchen wir sanft in diese Glut – mit mutmachendem Proviant wie diesem Buch oder dem Film von Renata Keller über diese eindrückliche Frau, mit dem ich diese Rezension und Empfehlung zu Buch und Film abschliesse:
Im Feuer der tanzenden Stille
Der Film mit diesem Titel ist als Video on Demand auch auf Deutsch erhältlich. Auf der Webseite steht: Dieser Film ist eine Ode an die Kraft der Stille, ein Andachtslied an das Leben, ein Tanz mit der Würde. Eine feurige Besinnung auf die Kraft unserer Verantwortung. Es ist ein Liebesgedicht, angeregt durch das rebellische Leben einer großmütigen Inderin.
Danke Renata – für Film und Buch!