Ich war erschrocken. Die Jungs, die im Gegenzug zur Freilassung einiger Geiseln aus israelischer Haft entlassen wurden, waren 16, 17 Jahre alt. Sie hatten monatelang ohne Anklage, ohne Urteil im israelischen Gefängnis verbracht und waren, wenn wir dem SZ-Reporter Avenarius glauben, abgemagert. Die Mutter eines der Ex-Gefangenen berichtet auch über Schläge vor und während der Haft. Die Jugendlichen selbst wagen nichts zu sagen, weil die Gefahr einer erneuten Inhaftierung besteht.

Unser Strafvollzugssystem ist, wenn man mal vom Entzug der Freiheit absieht, einigermaßen menschlich. Jede/r, der dort sitzt, hat ein Verfahren hinter sich, in dem eine Schuld und die entsprechende Strafe festgelegt wurde. Ob die Urteile immer meiner Beurteilung entsprechen, ob Gefängnisse der richtige Ort für Rehabilitation sind, all dies sei dahingestellt und kann hier nicht diskutiert werden. Aber, sagen wir es mal so: unser Rechtsstaat hat schon einige Vorteile gegenüber Staaten, die willkürlich Recht beugen und Menschen Strafen verhängen, die weniger mit der angeblich straffälligen Handlung, mehr jedoch mit den Absichten des Staates zu tun haben. Für Jugendliche (14-17jährige) und Heranwachsende (18-21jährige) gilt zusätzlich bei uns ein Jugendstrafrecht, das stärker als das Erwachsenenstrafrecht als pädagogische Maßnahme konzipiert ist: man gesteht dem Jugendlichen bzw. Heranwachsenden die Chance zu, eine im Sinne des Rechts positive Entwicklung zu nehmen (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Jugendstrafrecht_%28Deutschland%29). Auch Israel ist ein Rechtsstaat.

Aber für die Palästinenser:innen in den besetzten Gebieten gilt ein anderes Recht als für die Israelis.“ Israels ‚Administrative Detention‘-Gesetz gestattet Festnahmen allein wegen eines Verdachts der Planung einer Straftat, ohne Begründung oder Nennung nachvollziehbarer Beweise. Auch die halbjährlichen Haftverlängerungen können Militärrichter ohne Angaben von Gründen verhängen. Manche Palästinenser sitzen so über Jahre ohne Urteil in Administrativhaft.“ (Avenarius 20233). Jährlich werden 700 Minderjährige inhaftiert., „Der häufigste Grund: Sie haben mit Steinen nach israelischen Besatzungssoldaten geworfen“(https://www.dw.com/de/kinder-hinter-gittern-israels-harte-linie/a-66365199).

Keine Frage: Der Staat Israel befindet sich schon seit seinem Bestehen in einer Notlage – umgeben von feindseligen arabischen Staaten, deren Antipathie und Hass noch gesteigert wird durch die iranische Unterstützung radikaler Kräfte. Militärische Auseinandersetzungen gab es auch nach dem letzten Krieg (2008). Sie sind neben den ständigen Raketenangriffen der Hamas aus Gaza auch durch den Besatzungsstatus des Westjordanlandes bedingt, das in drei Zonen eingeteilt wurde: Zone A steht unter palästinensischer Verwaltung, Zone B unter gemischter israelisch-palästinensischer Verwaltung, Zone C unter israelischer Verwaltung. In Zone C befinden sich auch 300000 Palästinenser:innen, für die ein anderes Recht gilt als für Israelis. In der Talk Show von Markus Lanz am 30.11. berichteten die Journalistin Kristin Helberg und der Politiker Jürgen Trittin aus eigenen Erfahrungen, was die Ansiedlung von Israelis im Westjordanlande für die dort lebenden Palästinenser:innen bedeutet: Menschen werden aus ihren Häusern vertrieben, die Siedler:innen greifen die Palästinenser:innen an, dies alles in der Überzeugung, dass das Westjordanland zu Israel gehöre. Die rechtsradikale Regierung Israels hat der Ansiedlung immer neuer israelischer Niederlassungen nichts entgegengesetzt, sondern die Siedler sogar ermutigt. Zugleich hat sie die Sicherung des Staates Israel vernachlässigt und viele Hinweise auf einen bevorstehenden Anschlag übersehen. Am skandalösesten ist dabei die Stationierung einer militärischen Brigade, die die Siedler schützen sollte, statt die Grenze von Gaza nach Israel zu bewachen (so Kristin Helberg). Der Anschlag der Hamas hätte vermieden, zumindest aber weit weniger grässlich ablaufen können.

Der Preis des israelisch-palästinensischen Konflikts ist für Palästinenser:innen höher als für Israels. Bei den Militäroperationen Israels von 2008 bis Oktober 2023 wurden 6540 Palästinenser:innen und 309 Israelis getötet. Auf die Zahl der Verletzten gehe ich hier nicht ein. So schrecklich es ist, in einem Staat zu leben, der durch den Hass der Nachbarn gefährdet ist, aber die Todeszahlen zeigen, dass Israel sich in einer Weise wehrt, die auf der Gegenseite eine immens hohe Operzahl fordert. Die Empörung der Palästinenser:innen, die seit der Nakba, ihrer Vertreibung aus den Israel zugesprochenen Landesteilen, von Generation zu Generation weitergetragen wird, führt teilweise zu Hass gegenüber den Besatzern. Der Gipfel dieses Hasses war am 7. Oktober erreicht, als Männer der Hamas Israelis im Westjordanland überfielen und ein beispiellloses Massaker anrichteten. Und sie nahmen Geiseln, als Faustpfand für Palästinenser:innen, die im israelischen Gefängnis saßen.

Es begann ein Bangen und Hoffen auf israelischer Seite um die Geiseln, auf palästinensischer Seite um das eigene Leben. Die Bevölkerung im Norden Gazas wurde aufgefordert, in den Süden zu ziehen, damit Israels Militär im Norden gegen die Hamas-Täter vorgehen konnte. Faktisch fand eine Vertreibung der Zivilbevölkerung statt. Im aktuellen Krieg sind seit dem 7. Oktober 1200 Israelis und im Zuge der israelischen militärischen Gegenwehr 15000 Palästinenser:innen getötet worden. Wieder zahlen die Palästinenser:innen einen weitaus höheren Blutzoll als die Israelis. Dieser Blutzoll macht langfristig Israel verwundbarer. Denn der Hass auf Israel lässt sich noch weniger besänftigen als vor dem aktuellen Krieg.

Der Terror der Hamas hat sein Ziel erreicht. „Israel fällt in die Terrorfalle hinein, weil alles, was danach kam, die Wirkung des Terrors verstärkt. Denn alles war für die Hamas vorhersehbar. Israel würde den Terrorangriff nicht hinnehmen, nicht zögern, nicht verhandeln, sondern so brutal wie möglich Gaza angreifen. Das ist erfolgt. Der kriegerische Angriff würde insbesondere Zivilisten, Frauen, alte Menschen, Kinder als Opfer verlangen, denn die Hamas hat sich krebsartig in Gaza verbreitet, sie wuchert überall und vor allem dort, wo Zivilisten sind, Krankenhäuser sind dafür ein gutes und zugleich perfides Beispiel….Das alles gehörte zum Kalkül der Hamas“ (Karimi 2023, https://www.sueddeutsche.de/meinung/ahmad-milad-karimi-hamas-terror-gaza-israel-1.6311103.

Ich stelle mir vor, wie es in palästinensischen Familien aussieht, wenn die jugendlichen Kinder vom israelischen Militär festgenommen und ins Gefängnis gesteckt werden. Ich stelle mir vor, wie es einer Mutter geht, die ihrem Kind mit Filzstift den Namen auf den Arm schreibt, damit es nach einem Angriff identifiziert werden kann. Die Idee der israelischen Regierung, die Hamas durch Bombardements zu zerstören, ist von Grund auf falsch, weil sie leugnet, was in den Köpfen und Herzen der Menschen passiert. Natürlich schwenken sie die Fahne der Hamas, wenn ihre Jungs aus dem Knast freigelassen werden und „nach Hause“ kommen, wie immer dieses Zuhause jetzt aussieht.. Natürlich empfinden die Jungs Empörung bis hin zu Hass gegenüber Israel. Und ihre ganze Verwandtschaft ebenfalls. Diese Jungs werden Männer, die jede Gelegenheit wahrnehmen, Israel zu schaden.

Die bisherige Politik Israels ist für Israel die größte Gefahr. „Es gilt daher, sich aus der Terrorfalle zu befreien. Werteorientierte Handlung gerade in Grenz- und Notsituationen zeichnet eine demokratische Ordnung aus, die ihre universellen humanistischen Werte niemals zurückstellen darf. Das beidseitige Leid zu sehen und für einen wehrhaften Frieden zu stehen, das ist nun gefordert. Denn jedes Kind, das in Gaza noch umkommen wird, stärkt den Terror, gegen den Israel kämpft. Nicht Israel, sondern diese auch in Israel nicht unumstrittene Verteidigungspolitik infrage zu stellen, dürfte der Anfang sein“ (ebenda).

Israel ist in großer Gefahr. Die Bundesregierung sollte die Staatsräson, sich an die Seite dieses jüdischen Staates zu stellen, endlich ernstnehmen und Israel vor den Rechtsradikalen schützen. Denn sie sind es, die für die augenblickliche Eskalation verantwortlich sind. Sie haben die Zweistaatenlösung immer und immer wieder zu torpedieren versucht – mit Erfolg. Aber nur eine Befriedung von Palästinenser:innen in einem eigenen Staat kann Israel auf Dauer den notwendigen Schutz gewährleisten. Die Siedler im Westjordanland müssen sich zurückziehen oder einer neuen Rechtsordnung unterordnen, die Palästinenser:innen und Juden die gleichen Rechte einräumt, unterordnen.

Nur wenn wir den Interessen der Palästinenser:innen bei uns Raum geben, können wir dem von muslimischer Seite wachsenden Antisemitismus in Deutschland mit guten Argumenten entgegentreten. Das wäre für Pädagog:innen in Kita, Schule und Hochschule, die derzeit mit den Auswirkungen der Nahost-Krise konfrontiert sind, eine große Hilfe. Der von deutschen Rechtsradikalen vertretene Judenhass bedarf allerdings noch anderer Maßnahmen (vgl. https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/gegen-antisemitismus-2231878).


Quellen:

Avenarius, Thomas: Freigelassene Palästinenser. „Ich will ihn nur ansehen, umarmen, küssen“. In: Süddeutsche Zeitung, 29.11.2023
Kristin Helberg, Jürgen Trittin und Guido Steinberg bei Markus Lanz am 30.11.
Ahmad Milad Karimi: Israel geht der Hamas in die Falle. In Süddeutsche Zeitung, 30.11.2023
Konstantin Sakkas: Die Komplexität eines Kampfbegriffs. Ist Israel ein Apartheidstaat? In: Tagesspiegel, 7.11.2023
Statista https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1417633/umfrage/anzahl-von-todesopfern-und-verletzten-unter-palaestinensern-im-nahostkonflikt/
Bernhard Zand: Hass für ein Jahrhundert. In: Spiegel 46 vom 11.11.2023, S. 78-83.

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