Für die US-Massenmedien war Henry Kissingers Ausspruch, dass „Macht das ultimative Aphrodisiakum“ sei, zutreffend. Einflussreiche Reporter und Experten brachten oft ihre Liebe zu ihm zum Ausdruck. Das Medien-Establishment schwärmte immer wieder von einem der schlimmsten Kriegsverbrecher der modernen Geschichte.

Von Norman Solomon

Nachdem die Nachricht von seinem Tod in der Nacht zum Mittwoch bekannt wurde, war die prominente Berichterstattung die gleiche, wie sie ihn seit seinen Jahren mit Präsident Richard Nixon verfolgte, als sie gemeinsam ein riesiges Gemetzel in Südostasien beaufsichtigten.

Die Schlagzeile einer Meldung der Washington Post brachte es auf den Punkt: „Henry Kissinger stirbt im Alter von 100 Jahren. Der bekannte Staatsmann und Gelehrte hatte einen beispiellosen Einfluss auf die Außenpolitik“.

Aber kann ein Kriegsverbrecher wirklich ein „bekannter Staatsmann“ sein?

Die Top-Story der New York Times begann mit der Beschreibung Kissingers als „Gelehrter, der sich zum Diplomaten wandelte, der die Öffnung der Vereinigten Staaten gegenüber China vorantrieb, ihren Rückzug aus Vietnam aushandelte und List, Ehrgeiz und Intellekt einsetzte, um die amerikanischen Machtverhältnisse mit der Sowjetunion zur Zeit des Kalten Krieges neu zu gestalten, wobei er manchmal demokratische Werte mit Füßen trat.“

Und so rückte die Times Kissingers Rolle beim „Ausstieg der USA aus Vietnam“ im Jahr 1973 ins Rampenlicht – nicht aber seine Rolle während der vorangegangenen vier Jahre, als er das gnadenlose Abschlachten in einem Krieg beaufsichtigte, der mehrere Millionen Menschenleben forderte.

„Abgesehen von denen, die an Krankheiten, Hunger oder mangelnder medizinischer Versorgung starben, starben nach Angaben von Forschern der Harvard Medical School und der University of Washington mindestens 3,8 Millionen Vietnamesen eines gewaltsamen Kriegstodes“, so der Historiker und Journalist Nick Turse. Er fügte hinzu: „Die beste Schätzung, die wir haben, ist, dass 2 Millionen von ihnen Zivilisten waren. Bei einer sehr konservativen Hochrechnung bedeutet dies, dass 5,3 Millionen Zivilisten während des Krieges verwundet wurden, was insgesamt 7,3 Millionen vietnamesische Zivilopfer ergibt. Hinzu kommen schätzungsweise 11,7 Millionen Vietnamesen, die aus ihren Häusern vertrieben und zu Flüchtlingen gemacht wurden, bis zu 4,8 Millionen, die mit giftigen Herbiziden wie Agent Orange besprüht wurden, schätzungsweise 800.000 bis 1,3 Millionen Kriegswaisen und 1 Million Kriegswitwen“.

Alles in allem überwachte Kissinger während seiner Regierungszeit eine Politik, die mindestens 3 Millionen Menschen das Leben kostete.

Henry Kissinger war der entscheidende US-Beamte, der den Staatsstreich vom 11. September 1973 unterstützte, durch den die demokratisch gewählte Regierung von Salvador Allende in Chile gestürzt wurde – der Beginn einer 17-jährigen Diktatur mit systematischer Ermordung und Folter (im Times-Jargon: „demokratische Werte mit Füßen treten“).

Kissinger blieb während der Präsidentschaft von Gerald Ford als Außenminister im Amt. Die tödlichen Machenschaften gingen vielerorts weiter, auch in Osttimor im indonesischen Archipel. „Unter Kissingers Leitung gaben die USA 1975 grünes Licht für die indonesische Invasion Osttimors (heute Timor-Leste), die eine 24-jährige brutale Besatzung durch die Suharto-Diktatur einleitete“, berichtet die Menschenrechtsorganisation ETAN. „Die indonesische Besetzung von Osttimor und Westpapua wurde durch Waffen und Ausbildung aus den USA ermöglicht. Dieser illegale Waffenfluss verstieß gegen die Absicht des Kongresses, dennoch prahlte Kissinger damit, dass er die Waffenlieferungen an Suharto fortsetzen konnte.

„Diese Waffen waren für die Festigung der militärischen Kontrolle des indonesischen Diktators sowohl in Osttimor als auch in Westpapua unerlässlich, und diese Besetzungen kosteten Hunderttausenden von timoresischen und papuanischen Zivilisten das Leben. Kissingers Politik gegenüber West Papua ermöglichte es dem in den USA ansässigen multinationalen Unternehmen Freeport McMoRan, seine Bergbauinteressen in der Region zu verfolgen, was zu schrecklichen Menschenrechts- und Umweltverstößen führte; Kissinger wurde mit einem Sitz im Verwaltungsrat von 1995-2001 belohnt.“

Das ist also die Arbeit eines angesehenen Staatsmannes.

Die beruflichen Liebesbeziehungen zwischen Kissinger und vielen amerikanischen Medienvertretern dauerten an, seit er Anfang 1969, als Nixon Präsident wurde, das Lenkrad der US-Außenpolitik in die Hand bekam. In Südostasien ging die Agenda weit über Vietnam hinaus.

Nixon und Kissinger verübten in Laos routinemäßig Massaker an der Zivilbevölkerung, wie Fred Branfman 1972 in seinem Buch „Voices From the Plain of Jars“ dokumentierte. Er erzählte mir Jahrzehnte später: „Ich war zutiefst schockiert, als ich laotische Bauern interviewte, die zu den anständigsten, menschlichsten und gütigsten Menschen auf der Welt gehören, und die beschrieben, wie sie jahrelang unter der Erde lebten, während sie sahen, wie zahllose Dorfbewohner und Familienmitglieder bei lebendigem Leib von Napalm verbrannt, von 500-Pfund-Bomben erstickt und von Antipersonenbomben zerfetzt wurden, die von meinem Land, den Vereinigten Staaten, abgeworfen wurden.“

Branfmans Entdeckungen veranlassten ihn, die Politik der USA zu hinterfragen: „Ich erfuhr bald, dass eine winzige Handvoll amerikanischer Führer, eine US-Exekutive unter der Führung von Lyndon Johnson, Richard Nixon und Henry Kissinger, es auf sich genommen hatte – ohne den US-Kongress oder die Öffentlichkeit auch nur zu informieren, geschweige denn zu konsultieren -, Laos massiv zu bombardieren und Zehntausende von unschuldigen laotischen Zivilisten zu ermorden, die nicht einmal wussten, wo Amerika war, geschweige denn, dass sie etwas gegen Amerika unternommen hätten. Die Ziele der US-Bombardements waren fast ausschließlich von Bauern bewohnte Dörfer, vor allem alte Menschen und Kinder, die in den Wäldern nicht überleben konnten. Die Soldaten der Gegenseite bewegten sich durch die stark bewaldeten Gebiete in Laos und blieben von den Bombardierungen weitgehend verschont.“

Die Kriegsführung der USA in Südostasien war auch für Kambodscha verheerend. Denken Sie an einige Worte des verstorbenen Anthony Bourdain, der viel über die Lebensmittel und Kulturen der Welt gelernt hat. Zu Beginn dieses Jahrhunderts schrieb Bourdain: „Wenn Sie einmal in Kambodscha waren, werden Sie nie wieder aufhören, Henry Kissinger mit bloßen Händen erschlagen zu wollen. Man wird nie wieder eine Zeitung aufschlagen und lesen können, dass dieser verräterische, verlogene, mörderische Dreckskerl sich zu einem netten Gespräch mit Charlie Rose hinsetzt oder an einer Gala für ein neues Hochglanzmagazin teilnimmt, ohne zu ersticken. Wenn man sieht, was Henry in Kambodscha getan hat – die Früchte seines staatsmännischen Genies -, wird man nie verstehen, warum er nicht in Den Haag neben [Slobodan] Milošević auf der Anklagebank sitzt.“

Bourdain fügte hinzu, dass Kissinger zwar weiterhin auf hochkarätigen Partys verkehrte, aber „Kambodscha, die neutrale Nation, die er heimlich und illegal bombardiert, überfallen, unterminiert und dann den Hunden vorgeworfen hat, immer noch versucht, sich auf sein einziges verbliebenes Bein zu stellen.“

Doch zurück in den Korridoren der US-Medienmacht verlor Henry Kissinger nie den Glanz der Brillanz.

Zu den schwärmenden Journalisten gehörte Ted Koppel von ABC, der 1992 die Zuschauer der Sendung Nightline informierte: „Wenn Sie eine klare außenpolitische Vision wollen, jemanden, der Sie über die konventionelle Weisheit des Augenblicks hinausführt, dann gibt es kaum einen besseren als Henry Kissinger.“ Als einer der einflussreichsten Rundfunkjournalisten dieser Zeit begnügte sich Koppel nicht damit, zu erklären, er sei „stolz, ein Freund von Henry Kissinger zu sein“. Der renommierte Nachrichtensprecher lobte seinen Freund als „sicherlich einen der zwei oder drei größten Staatssekretäre unseres Jahrhunderts“.

Die Übersetzung aus dem Englischen wurde von Alina Kulik vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!


Norman Solomon ist nationaler Direktor von RootsAction.org und geschäftsführender Direktor des Institute for Public Accuracy. Er ist der Autor vieler Bücher, darunter War Made Easy („Krieg leicht gemacht“). Sein neuestes Buch, War Made Invisible: How America Hides the Human Toll of Its Military Machine („Krieg unsichtbar gemacht: Wie Amerika den menschlichen Tribut seiner Militärmaschinerie verheimlicht“), wurde im Sommer 2023 von The New Press veröffentlicht.

Der Originalartikel kann hier besucht werden