Berlin dringt auf militärischen „Erfolg“ der Ukraine – trotz deren Mangels an Soldaten und Munition. Kiewer Kriegsstrategie soll in Wiesbaden in war games getestet werden. Einzug russischen Auslandsvermögens im Gespräch.

Berlin dringt trotz rasch zunehmenden Mangels in den ukrainischen Streitkräften an Soldaten und an Munition auf einen militärischen „Erfolg“ der Ukraine. Es liege „in unserem Interesse“, dass Kiew im Krieg gegen Moskau „erfolgreich“ sei, erklärt der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil; dafür müssten Deutschland und die EU nun auch „mehr Verantwortung“ übernehmen. Klingbeil fordert dies, während vor allem US-Leitmedien dazu übergehen, die militärische Lage in der Ukraine realistischer zu skizzieren als bisher. Demnach wird etwa der ukrainische Vorstoß auf das Ostufer des Dnipro, der in Deutschland gefeiert wurde, von überlebenden ukrainischen Soldaten als „sinnlos“ und „Suizidmission“ charakterisiert. Weil sich kaum noch Freiwillige zum Kriegsdienst melden, gehen die ukrainischen Streitkräfte immer mehr zu Zwangsrekrutierungen über. Die Kiewer Kriegsstrategie soll künftig noch stärker unter US-Einfluss entwickelt werden; sie wird in Kürze in Wiesbaden-Erbenheim in sogenannten war games durchgespielt. Unterdessen wächst in den G7 der Druck, das Auslandsvermögen der russischen Zentralbank – rund 300 Milliarden US-Dollar – zu konfiszieren. Es wäre ein Präzedenzfall, der dann auch anderen droht.

„Eine Suizidmission“

Mehrere Berichte, die in den vergangenen Tagen vor allem in US-Leitmedien publiziert wurden, werfen ein – im Westen seltenes – realistisches Licht auf die aktuelle Kriegführung der Ukraine. So bestätigt sich, dass der Vorstoß ukrainischer Truppen im Herbst auf das Ostufer des Dnipro unweit Cherson ein einziges Desaster war. Über den Vorstoß schrieb etwa das RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND), rund 500 ukrainische Soldaten hätten den Dnipro überqueren und sich auf der von Russland kontrollierten Seite festsetzen können; es scheine „für die Ukraine einer der größten Erfolge der vergangenen Wochen“ zu sein. Ein ukrainischer Militärgeheimdienstler wurde mit der Behauptung zitiert, „die Russen“ gerieten „wegen der Vorstöße ukrainischer Einheiten … in Panik“.[1] Wie jetzt die New York Times, gestützt auf Schilderungen überlebender Militärs, berichtet, werde die gesamte Offensive als „sinnlos“ beschrieben. Ganze „Wellen von Soldaten“ seien von feindlichem Feuer bereits beim Überqueren des Flusses niedergemäht worden. Für diejenigen, die lebend angelangt seien, sei es „unmöglich“ gewesen, auf dem Ostufer im von Bombenkratern durchzogenen Schlamm wirklich Fuß zu fassen: Es habe sich um „eine Suizidmission“ gehandelt.[2] Es sei nicht einmal gelungen, die Verletzten zu bergen, weil es an Booten gefehlt habe.

Zwangsrekrutierungen

US-Medienberichte bestätigen inzwischen ebenfalls, dass ein schwerer Mangel an Soldaten die ukrainische Kriegführung hemmt. Bereits kürzlich wurde ein ukrainischer Offizier in der Washington Post mit der Aussage zitiert: „Uns geht das professionelle Militärpersonal aus“.[3] Grund sei eine massiv geschrumpfte Bereitschaft, sich zum Kriegsdienst zu melden; mittlerweile hielten sich rund 650.000 Männer im kriegsdienstfähigen Alter im europäischen Ausland auf und weigerten sich, in die Ukraine zurückzureisen, um an die Front zu ziehen. Jetzt berichtet die New York Times, die ukrainischen Behörden gingen immer mehr zu Zwangsrekrutierungen über, bei denen Männer im wehrpflichtigen Alter teils gewaltsam in Fahrzeuge gezerrt und zu Rekrutierungsstellen verschleppt würden. Eine Anwältin, die Zwangsrekrutierte gerichtlich vertritt, berichtet, derlei Fälle hätten in den vergangenen sechs Monaten „massiv zugenommen“; bei ihr – sie arbeitet in der westukrainischen Großstadt Czernowitz mit rund 260.000 Einwohnern – meldeten sich zuweilen 30 bis 40 Personen am Tag, die gegen ihren Willen und zumindest partiell illegal in die Streitkräfte gezwungen worden seien.[4] Freilich sei die Korruption ungebrochen; wer ausreichend Geld habe, könne sich freikaufen: „Es ist ein Krieg für arme Leute“, wird ein Rechtsanwalt aus Kiew zitiert.

Zu wenig Munition

Zu Wochenbeginn hat zudem der Kommandeur der ukrainischen Landstreitkräfte, Olexander Sirskyj, offen eingeräumt, die militärische Lage sei „kompliziert“.[5] Zum einen machen Berichte die Runde, den ukrainischen Truppen gehe die Munition aus; Brigadegeneral Olexander Tarnawskyj erklärte am Montag, „Knappheit“ herrsche „an der kompletten Frontlinie“: „Die Mengen, die wir haben, decken den Bedarf nicht.“[6] Die EU hatte den ukrainischen Streitkräften großspurig versprochen, immense Mengen an Munition zu liefern, im November aber einräumen müssen, bislang nur ein Drittel der zugesagten Volumina beschafft zu haben.[7] Zum anderen ist, wie Sirskyj bestätigt, inzwischen Russland wieder in die Offensive gegangen; ihm zufolge rücken die russischen Streitkräfte in der Ostukraine erneut vor. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat gestern mitgeteilt, die Streitkräfte forderten zur Zeit 450.000 neue Soldaten. „Das ist eine sehr ernste Zahl“, äußerte Selenskyj: Es handle sich nicht nur um „eine Frage von Menschen“, sondern auch um „eine Frage der Finanzen“. Rekrutiere man tatsächlich nahezu eine halbe Million Menschen, werde das sehr viel Geld kosten. Selenskyj nannte eine Summe von rund 12,2 Milliarden Euro und kündigte eine Befassung des Parlaments mit der Forderung der Streitkräfte an.[8]

War games in Erbenheim

Ihre konkrete Kriegsstrategie wird die Ukraine dabei in Zukunft noch stärker als bisher unter der Kontrolle der US-Militärführung ausarbeiten. Schon jetzt koordiniere Christopher Cavoli, Kommandeur der US-Streitkräfte in Europa und Afrika sowie NATO-Oberbefehlshaber, die Absprachen mit Kiew intensiver, wird berichtet.[9] Das Pentagon werde zudem einen US-General viel häufiger als zuvor nach Kiew entsenden, um dort die ukrainischen Streitkräfte zu „beraten“. Habe Washington es eigentlich vermeiden wollen, führende US-Militärs dauerhaft in der Ukraine zu stationieren – auch, da dies eine offene Kriegsbeteiligung deutlich erkennen lasse –, so würden die regelmäßigen Reisen des Generals in den kommenden Wochen und Monaten einer dauerhaften Stationierung sehr nahekommen. Bei dem General handelt es sich laut Berichten um Generalleutnant Antonio Aguto, den Kommandeur der Security Assistance Group Ukraine (SAG-U), die die Aufrüstung der ukrainischen Truppen und die Ausbildung der ukrainischen Soldaten koordiniert. Sie umfasst rund 300 Soldaten und ist in der Clay-Kaserne in Wiesbaden-Erbenheim angesiedelt.[10] Dort werden ukrainische und US-Militärs in Kürze sogenannte war games durchführen, um verschiedene Varianten für die ukrainische Kriegsstrategie durchzuspielen. Washington dringt – mit Blick auf die Knappheit an Munition und Soldaten – auf eine Defensivstrategie.[11]

Im deutschen Interesse

Berlin setzt demgegenüber weiterhin auf einen Kriegserfolg der Ukraine. Wie der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil erklärt, liege es „in unserem Interesse“, dass Kiew „erfolgreich“ sei.[12] Um dies zu erreichen, müssten Deutschland und die EU vermutlich schon bald „mehr Verantwortung“ bei der Unterstützung für die Ukraine übernehmen – dann jedenfalls, wenn sich in den Vereinigten Staaten, wie es den Anschein habe, die „außenpolitische[n] Prioritäten verschieben“: „Dann kommt es auf Frankreich, Deutschland, Polen an!“

Ein Präzedenzfall

Um die erforderlichen Mittel zur Verfügung zu haben, dringt vor allem Washington auf neue Wege. Hintergrund ist, dass die Republikaner im US-Kongress die Zahlung der 60 Milliarden US-Dollar an die Ukraine nicht genehmigen wollen, die die Biden-Administration verlangt. Kaum jemand geht davon aus, dass Deutschland und die EU in der Lage sein werden, die US-Mittel in vollem Umfang zu ersetzen. Bei den G7 steigt nun der Druck, die 300 Milliarden US-Dollar, die die russische Zentralbank in westlichen Staaten angelegt hat – überwiegend in Europa –, zumindest teilweise zu beschlagnahmen und sie der Ukraine zur Verfügung zu stellen.[13] Der Plan galt lange Zeit als allzu riskant: Zum einen ist klar, dass Drittstaaten in Zukunft dazu übergehen werden, Vermögen aus dem Westen abzuziehen, wenn sie damit rechnen müssen, dass dieses im Konfliktfall konfisziert werden kann; zum anderen liegt nahe, dass die westlichen Staaten damit rechnen müssen, dass auch ihr Vermögen in gegnerischen Staaten eingezogen werden kann. Vor allem Deutschland hatte den Plan bisher mit großer Skepsis betrachtet. Es sitzt auf immensen Altlasten nie gezahlter Reparationen und bis heute verweigerter Entschädigungen aus zwei Welt- und diversen Kolonialkriegen. Die Einziehung russischen Vermögens kann als Präzedenzfall gewertet werden und die Nachkommen der Opfer und ihre Staaten veranlassen, sich aus deutschem Auslandsvermögen zu entschädigen.

 

[1] Sven Christian Schulz: Kilometerweiter Vorstoß: Ukrainische Marine überrascht Russen am Dnipro-Ufer. rnd.de 22.11.2023.

[2] Carlotta Gall, Oleksandr Chubko, Olha Konovalova: Ukrainian Marines on ‘Suicide Mission’ in Crossing the Dnipro River. nytimes.com 16.12.2023.

[3] Fredrick Kunkle, Serhii Korolchuk: Ukraine cracks down on draft-dodging as it struggles to find troops. washingtonpost.com 08.12.2023. S. dazu Durchhalteparolen aus Berlin.

[4] Thomas Gibbons-Neff: ‘People Snatchers’: Ukraine’s Recruiters Use Harsh Tactics to Fill Ranks. nytimes.com 15.12.2023.

[5] Marc Bennetts: Ukraine facing lack of western ammunition as tensions grow in Kyiv. thetimes.co.uk 19.12.2023.

[6] Ukrainischer General klagt über Munitionsmangel. sueddeutsche.de 18.12.2023.

[7] EU verfehlt Lieferzusage von Munition für die Ukraine. zeit.de 14.11.2023.

[8] Ukrainisches Militär fordert 450.000 neue Soldaten. sueddeutsche.de 19.12.2023.

[9] Julian E. Barnes, Eric Schmitt, David E. Sanger, Thomas Gibbons-Neff: U.S. and Ukraine Search for a New Strategy After Failed Counteroffensive. nytimes.com 11.12.2023.

[10] Peter Badenhop: Selenskyj besucht US-Stützpunkt in Wiesbaden. faz.net 14.12.2023.

[11] Julian E. Barnes, Eric Schmitt, David E. Sanger, Thomas Gibbons-Neff: U.S. and Ukraine Search for a New Strategy After Failed Counteroffensive. nytimes.com 11.12.2023.

[12] Putin „komplett auf Krieg ausgerichtet“. bild.de 18.12.2023.

[13] Laura Dubois, James Politi, Lucy Fisher: G7 moves closer to seizing Russian assets for Ukraine. ft.com 15.12.2023.

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