Nach fast zwei Jahren Krieg in der Ukraine spricht immer weniger für einen baldigen Sieg Kiews. Im Land wächst inzwischen die Enttäuschung über den Kriegsverlauf, was den Westen offenbar dazu bewegt, ernsthaft über Friedensverhandlungen nachzudenken. Doch ist Moskau zu Verhandlungen überhaupt bereit?
Von Alexander Männer
Angesichts der katastrophalen Lage, in der sich die Ukraine und ihre Streitkräfte nach fast zwei Jahren Krieg mit Russland befinden, zeigt sich in den Vereinigten Staaten und in Europa inzwischen eine Trendwende, was ihre umfangreiche Unterstützung für das osteuropäische Krisenland betrifft. Die Bereitschaft des Westens, sowohl den ukrainischen Haushalt mitzufinanzieren als auch ihre Waffenlieferungen aufrechtzuerhalten, ist nicht zuletzt seit dem militärischen Fiasko Kiews, bei dem zig Tausende ukrainische Soldaten getötet wurden und kein einziges Ziel erreicht wurde, deutlich gesunken.
Trotzdem hegt die Führung der Ukraine weiterhin die Hoffnung, durch noch mehr westliche Hilfe einen schnellen und entscheidenden Sieg über Russland erreichen zu können. Diesen Optimismus scheinen immer weniger Ukrainer zu teilen. Stattdessen macht sich in der Gesellschaft aufgrund der anhaltenden Verluste der Armee langsam aber sicher die Enttäuschung über den Kriegsverlauf breit.
Die momentan deutlich erkennbare Demoralisierung im Land bewegt die USA und Co. offenbar dazu, ernsthaft über Verhandlungen mit Russland nachzudenken. Dafür spricht vor allem ein aktueller Bericht der BILD-Zeitung. Demnach verfolgen Washington und Berlin die Absicht, „die Regierung in Kiew über Qualität und Quantität ihrer Waffenlieferungen zur Verhandlungsbereitschaft mit Moskau zu bewegen“. Dabei wolle man der Ukraine genau jene Waffen in genau in den Mengen liefern, damit ihre Streitkräfte zwar die aktuelle Front halten, allerdings nicht zu einer Rückeroberung der sich unter russischer Kontrolle befindenden Gebiete ansetzen können.
Auf der Grundlage des aktuellen Frontverlaufs soll Kiew dann – nämlich aus einer „guten strategischen Verhandlungsposition“ heraus – mit der Führung in Moskau über seine „Souveränität und territoriale Integrität“ verhandeln.
Ein Regierungsbeamter erklärte jedoch gegenüber BILD: „Es wird immer offensichtlicher, dass das Kanzleramt nicht an einen Sieg der Ukraine glaubt und ihn auch überhaupt nicht will. Das Waffenpaket, das Pistorius in die Ukraine brachte, ist kein Ausdruck, dass man das Ziel ‚Die Ukraine muss gewinnen‘ verfolgt. Sondern es steht symbolisch dafür, dass man nur so wenig unterstützt, dass die Ukraine zu Verhandlungen, einem ‚Minsk 3‘, gedrängt wird.“
Die westliche Presse hat in den vergangenen Wochen immer wieder darauf verweisen, dass es Russland sei, das eine Pause der Kampfhandlungen benötigen und deshalb auf Verhandlungen drängen würde. Doch trifft dies in Anbetracht der derzeitigen Lage auf dem Schlachtfeld überhaupt zu?
Nicht unbedingt, denn aus militärischer Sicht ist eine Waffenruhe für die Russen in der jetzigen Situation eher kontraproduktiv. Schließlich haben sie eine mehrmonatige Großoffensive abwehren und wieder die Initiative an der Front wiedererlangen können. Und sie sind es inzwischen, die regelmäßig Geländegewinne erzielen und damit höchstwahrscheinlich eine strategische Offensive vorbereiten.
Darüber hinaus sind die russischen Verluste bei weitem nicht so hoch wie die der Ukraine. Immer mehr Militärexperten betonen, dass die ukrainische Armee sich in einem äußerst kritischen Zustand befindet, da sie nicht nur die vor dem Krieg angesammelten Kräfte größtenteils verbraucht hat, sondern auch diejenigen Kampfverbände, die mit großer Mühe unter westlicher Beteiligung aufgestellt wurden. Nach mehr als 21 Monaten Krieg sowie der katastrophalen Gegenoffensive sollen nach Schätzungen mehr als 500.000 ukrainische Soldaten getötet oder verletzt worden sein.
Solche Verluste sowie die massiven Flüchtlingsströme aus der Ukraine haben dazu geführt, dass es in dem Land heute anscheinend kaum noch junge und gesunde Männer gibt, die man einberufen kann. Daher werden inzwischen sogar deutlich ältere Menschen eingezogen. Dafür hatte die Regierung in diesem Jahr bestimmte Altersbeschränkungen für die Einberufung aufgehoben – mobilisiert werden seitdem Männer im Alter von 18 bis 60 Jahren. Laut dem US-Magazin Time sind die ukrainischen Soldaten im Durchschnitt mittlerweile deutlich älter als noch am Anfang des Konflikts. Demnach beträgt das Durchschnittsalter 43 Jahre, 2022 lag es noch bei etwa 30 Jahren.
Nicht ausgeschlossen von der Mobilisation sind übrigens auch Männer mit gesundheitlichen Einschränkungen, unter anderem auch jene, denen zum Beispiel ein Arm oder ein Bein fehlt. Zudem können auch viele Frauen, die im Bereich Medizin und Krankenhauswesen beschäftigt sind und seit Langem als wehrdienstpflichtig gelten, einberufen werden.
Dabei zeichnen sich diesen neu rekrutierten Soldaten nicht gerade durch eine hohe Kampffähigkeit und Moral aus, weshalb die Kampffähigkeit der gesamten Truppe abnimmt. Überhaupt verweigern immer mehr Ukrainer den Kampf und gehen stattdessen lieber in Gefangenschaft. Allein seit dem Sommer haben sich russischen Angaben zufolge mehr als 10.000 ukrainische Soldaten ergeben.
Von solchen Zuständen sind die russischen Streitkräfte meilenweit entfernt und es ist nicht davon auszugehen, dass Moskau diesen Vorteil, der so hart erkämpft wurde, ungenutzt verstreichen lassen will. Daher werden die Russen mit der Ukraine höchstwahrscheinlich nicht verhandeln.
Dieser Ansicht ist auch der ehemalige Offizier des US Marine Corps und einstiger UN-Waffeninspektor Scott Ritter. Ihm zufolge wird Russland nicht mit der Ukraine unter anderem deshalb nicht verhandeln, weil es den Tod seiner Soldaten damit nicht entwerten will. Außerdem seien Verhandlungen für die russische Seite derzeit nicht mehr von Interesse, da die Umstände sich inzwischen deutlich zu ihren Gunsten verändert haben.
Eigentlich wollte Russland die Friedensverhandlungen schon 2022 und Anfang dieses Jahres voranbringen, so der Experte, allerdings habe der Westen die Ukraine mit milliardenschweren Finanzhilfen und politischer Unterstützung dazu gebracht, die Kampfhandlungen auszuweiten. Bis hin zu einer massiven Offensive im Sommer und Herbst, die für die ukrainischen Truppen jedoch zu unvorstellbaren Verlusten geführt hätte. Deshalb befindet sich Kiew nun in einer Position, in der es keine andere Wahl habe, als seine Niederlage und folglich auch die Bedingungen des Kremls zu akzeptieren.