Die USA und europäische Staaten dringen laut US-Berichten auf Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland über einen Waffenstillstand. Gründe: fehlende militärische Erfolge, zu hohe Kriegskosten.

Der Präsident der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, stellt sich gegen maßgebliche Fraktionen seiner westlichen Finanziers und lehnt Verhandlungen mit Russland über einen Waffenstillstand ab. Am Wochenende bestätigte Selenskyj, er werde Gespräche mit der Regierung in Moskau nur zulassen, wenn diese alle Truppen aus den seit 2014 von Russland besetzten Gebieten abziehe. Da es der Ukraine nicht gelungen ist, seit dem Beginn ihrer Offensive Anfang Juni militärisch relevante Erfolge zu erzielen, ist die Forderung bedeutungslos. Dabei haben in den vergangenen Wochen Vertreter sowohl der USA als auch europäischer Staaten Kiew gedrängt, spätestens zum Jahreswechsel Verhandlungen mit Russland zu starten. Hintergrund ist, dass die Ukraine militärisch nicht von der Stelle kommt, kaum noch genug Soldaten rekrutieren kann und in den USA wie auch in der EU die Bereitschaft schwindet, hohe Milliardensummen für Kiew zu zahlen, die auf den Schlachtfeldern in der Ost- und der Südukraine verpulvert werden. Dass die Ukraine den Krieg nicht gewinnen kann, hat kürzlich Generalstabschef Walerij Saluschnyj bekräftigt – und sich damit gegen Selenskyj gestellt.

Hoffnung auf die Wunderwaffe

Dass die Ukraine den Krieg unter den gegenwärtig gegebenen Umständen nicht gewinnen kann, hat der ukrainische Generalstabschef Walerij Saluschnyj in der vergangenen Woche in einem Beitrag für die Zeitschrift Economist offen eingestanden. Saluschnyj verglich die aktuelle militärische Situation an der ukrainisch-russischen Front mit dem militärischen Patt an den Schützengräben des Ersten Weltkriegs. Überwinden lasse sich das Patt nur durch einen militärtechnologischen Sprung, der der Ukraine den entscheidenden Vorteil gegenüber den russischen Streitkräften verschaffe. Lange geforderte Waffen wie Langstreckenraketen oder Kampfjets des US-Typs F-16 reichten nicht mehr aus, urteilt Saluschnyj; die F-16 etwa könnten inzwischen von den deutlich verbesserten russischen Flugabwehrsystemen S-400 frühzeitig ausgeschaltet werden.[1] Um das Ruder doch noch herumzureißen, sei eine Kombination mehrerer modernster Waffensysteme notwendig. Saluschnyj fordert unter anderem modernere Drohnen, Mittel zur elektronischen Kriegführung auf avanciertestem Niveau, um etwa russische Drohnen vernichten zu können, aber auch innovatives Gerät, um Minen besser aufzuspüren.[2] Gelinge der militärtechnologische Sprung nicht, dann werde die Ukraine daran scheitern, dass sie „nicht genügend Menschen für den Kampf“ habe.

Zu wenig Soldaten

Während Kiew verzweifelt auf neue Wunderwaffen hofft, nimmt im Westen der Druck auf die Ukraine zu, Verhandlungen mit Russland über einen Waffenstillstand aufzunehmen. Dies berichtete am Freitag der US-Sender NBC unter Berufung auf US-Regierungsmitarbeiter. Dafür gebe es mehrere Ursachen, heißt es. Zum einen schwinde sowohl in den Vereinigten Staaten als auch in Europa die Bereitschaft, unaufhörlich hohe Milliardensummen für die Ukraine auszugeben. Die Tatsache, dass die ukrainische Offensive gescheitert sei, mache die Aufgabe, die Zahlungen zu begründen, nicht leichter.[3] Auch in der US-Bevölkerung bricht die Zustimmung zur Aufrüstung der Ukraine ein; lag der Anteil der US-Amerikaner, denen die Aufwendungen für Kiew zu weit gingen, vor drei Monaten noch bei lediglich 24 Prozent, so ist er inzwischen auf 41 Prozent gestiegen. Nur noch 25 Prozent sind hingegen der Meinung, Washington müsse größere Anstrengungen unternehmen. Auch unter Militärs wird außerdem gewarnt, in der Ukraine reduziere sich der Rekrutierungspool für die Streitkräfte erheblich. Während einerseits neue Soldaten keinerlei Kampferfahrung hätten und die Waffensysteme häufig nicht angemessen bedienen könnten, stoße die verbreitete Zwangsmobilisierung von Soldaten immer öfter auf Protest.

Knapp bei Kasse

Auch in Europa nimmt die Bereitschaft, den Kiewer Streitkräften auf unabsehbare Zeit immense Summen zur Verfügung zu stellen, die sogleich auf den Schlachtfeldern der Ost- und der Südukraine vernichtet werden, ab. Das gilt nicht nur für einzelne Staaten wie Ungarn sowie die Slowakei, deren neuer Ministerpräsident Robert Fico angekündigt hat, keinerlei Waffenlieferungen mehr an die Ukraine zu genehmigen.[4] Auf EU-Ebene ist gleichfalls eine wachsende Abneigung gegen neue Versprechungen zu erkennen. So fanden sich etwa, wie Beobachter festhalten, in den Beschlüssen des Europäischen Rats vom 26. Oktober mit Blick auf die künftige Finanzierung von Waffen für die Ukraine „nur vage Formulierungen“.[5] Insbesondere wurde ein Vorschlag des Außenbeauftragten Josep Borrell, Kiew von 2024 bis 2027 insgesamt 20 Milliarden Euro über die „Friedensfazilität“ zuverlässig zur Verfügung zu stellen, ignoriert. Die EU-Staaten, heißt es, seien „knapp bei Kasse“; sie stünden ohnehin vor einer kostspieligen Aufstockung des EU-Budgets. Hinzu komme nun, dass Israels Krieg im Gazastreifen ebenfalls in der einen oder anderen Form EU-Gelder zu verschlingen drohe, vor allem, wenn sich der Krieg zu einem umfassenden Flächenbrand im Nahen und Mittleren Osten ausweite. Das sei „nicht die beste Situation für weitreichende Zusagen an die Ukraine“.[6]

Zieldatum: Jahreswechsel

Laut dem NBC-Bericht sind inzwischen sowohl US-amerikanische als auch europäische Regierungsmitarbeiter dazu übergegangen, bei der ukrainischen Regierung unmittelbar auf die Aufnahme von Verhandlungen mit Russland zu dringen. In Washington setzt sich dabei die Überzeugung durch, solche Verhandlungen müssten spätestens zum Jahreswechsel oder kurz danach an Fahrt gewinnen. Dies habe man auch den europäischen Verbündeten mitgeteilt, heißt es.[7] Man habe zudem mit der ukrainischen Regierung Gespräche darüber geführt, was Kiew aufzugeben bereit sein müsse, um einen Deal mit Moskau schließen zu können. Die Gespräche seien „heikel“ gewesen, heißt es dazu. Einige seien im Oktober während eines Treffens der Ukraine Defense Contact Group („Ramstein-Format“) geführt worden, die die Aufrüstung der Ukraine unter US-Führung koordiniert. An dem Treffen, das am 11. Oktober in Brüssel stattfand, nahm erstmals der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj persönlich teil. Selenskyj beharrt zwar weiterhin darauf, niemand habe ihn „unter Druck gesetzt“, mit Russland Verhandlungen zu führen oder gar Zugeständnisse an Moskau zu machen.[8] Dies entspricht allerdings nur der auch im Westen allgemein verbreiteten Sprachregelung, der zufolge die Ukraine selbst entscheide, wie sie handle. Dass ihr keine Optionen verbleiben, wenn Waffen und Geld nicht mehr fließen, liegt auf der Hand.

Die Zeit drängt

Im Grundsatz bereitet der Westen Kiew schon seit dem Sommer konkret auf Verhandlungen mit Moskau vor. Dem Zweck dienten Treffen am 24. Juni in Kopenhagen und am 5. August in Jiddah, zu denen neben westlichen Staaten auch Länder des Globalen Südens geladen wurden. Dabei wurde etwa die Frage nach Sicherheitsgarantien, die einem Waffenstillstand folgen sollen, nicht nur für die Ukraine, sondern auch für Russland diskutiert – ein Hinweis darauf, dass es ernsthaft darum ging, Verhandlungen mit Moskau vorzubereiten.[9] Dies ist für eine dritte Verhandlungsrunde, die am 28./29. Oktober in Valletta (Malta) stattfand, weniger klar. Präsident Selenskyj betonte schon vorab stärker denn zuvor, es gehe lediglich darum, Unterstützer für seine „Friedensformel“ zu gewinnen. Diese sieht unter anderem einen vollständigen Rückzug der russischen Truppen aus sämtlichen seit Anfang 2014 besetzten Territorien vor; ihre Umsetzung kann als ausgeschlossen gelten. Mehrere Staaten, die bereits eigenständig Vermittlungsversuche unternommen hatten, darunter China und die Vereinigten Arabischen Emirate, nahmen nicht an dem offenbar als Zeitverschwendung eingeschätzten Treffen teil. Am Sonntag bekräftigte Selenskyj, er sei „nicht bereit“, Verhandlungen mit Moskau zu führen, solange dieses seine Truppen nicht zurückziehe.[10] Damit steht möglicherweise ein schwerer Disput zwischen Kiew und seinen westlichen Kriegsfinanziers bevor.

 

[1] Ukraine’s commander-in-chief on the breakthrough he needs to beat Russia. economist.com 01.11.2023.

[2] Valery Zaluzhny: The commander-in-chief of Ukraine’s armed forces on how to win the war. economist.com 01.11.2023.

[3] Courtney Kube, Carol E. Lee, Kristen Welker: U.S., European officials broach topic of peace negotiations with Ukraine, sources say. nbcnews.com 03.11.2023.

[4] Fragezeichen in der Außenpolitik. Frankfurter Allgemeine Zeitung 26.10.2023. S. auch „Alarmbereitschaft“ wegen der Slowakei.

[5], [6] Thomas Gutschker: Alle Augen auf Nahost, die Ukraine im Schatten. Frankfurter Allgemeine Zeitung 27.10.2023.

[7] Courtney Kube, Carol E. Lee, Kristen Welker: U.S., European officials broach topic of peace negotiations with Ukraine, sources say. nbcnews.com 03.11.2023.

[8] Ukraine’s Zelensky denies war with Russia at ‘stalemate’. france24.com 04.11.2023.

[9] S. dazu Die dritte Verhandlungsrunde.

[10] Ukraine’s Zelensky ‘not ready‘ for talks with Moscow unless troops withdraw. france24.com 06.11.2023.

Der Originalartikel kann hier besucht werden