Überarbeitete und gekürzte Fassung eines Vortrags im Nürnberger Zweig der anthroposophischen Gesellschaft vom 10. Oktober 2023.
Guten Abend allerseits!
Ich freue mich, dass ich heute Abend wieder bei Ihnen sein kann, obwohl der Anlass kein ein erfreulicher ist und ich auch nicht jeden Tag Gelegenheit habe, in einer Versammlung wie dieser zu sprechen. Unser heutiges Thema ist der Krieg in der Ukraine und seine Folgen. Das Thema haben wir vor Wochen festgelegt. Inzwischen sind weitere aktuelle Unruhen dazugekommen, die mit dem Krieg in der Ukraine zu einem Weltbrand zusammenzuwachsen drohen: Armenien, Moldau, Niger, potenziell Taiwan und jetzt die israelische Katastrophe, die sich zu einem Flächenbrand zu entwickeln droht.
Ohne direkte Teilnehmer dieser Kriege und Konflikte zu sein, sind wir, ist Deutschland, ist Europa engstens in dieses Geschehen verwickelt. Wir befinden uns in einer weltumspannenden Eskalation, die die westlich dominierte Weltordnung erschüttert. Offen ist, ob etwas lebensfähiges Neues daraus hervorgeht oder ob nur die alte Ordnung krachend und ohne Alternative zusammenbricht.
Ich möchte deshalb vorausschicken, bevor ich in Details gehe: Was wir brauchen, ist eine sofortige Waffenruhe, nicht nur in der Ukraine, sondern in allen Konfliktfeldern, in alten wie neuen, ist die Aufnahme von Gesprächen, ist die aktive Suche nach Lösungen, wenn ein menschenwürdiges Weiterleben, ja, eine Zukunft auf unserem Planeten möglich sein soll.
Aber wie kommen wir dahin? Der Wunsch nach Frieden ist ja nicht neu. Entlang dieser Frage möchte ich heute sprechen.
Was ich auch noch vorausschicken möchte: Ich war vor fünf Jahren, im Oktober 2018 schon einmal hier. Da haben wir ein interessantes Seminar durchgeführt. Es stand unter der Überschrift: „Umom Rossiu nje ponjat“. Übersetzt heißt das: mit dem Verstand – zu ergänzen, mit dem Verstand allein – ist Russland nicht zu verstehen. Da ging es um Russlands Rolle in einer Welt, in der sich die Spannungen, die heute eskalieren, bereits andeuteten. Im Verlaufe des Seminars kamen wir zu der Sicht, dass Russland, nachdem Wladimir Putin das Land innenpolitisch stabilisiert hatte, die Rolle eines Krisenstabilisators in der Welt übernommen hatte. Das war zu der Zeit unter anderem an dem beruhigenden Einwirken Russlands auf die syrische Krise erkennbar.
Die zweite Frage, die sich uns stellte, war: welche Rolle übernimmt Europa, speziell Deutschland in der sich zuspitzenden Konfrontation zwischen Russland und den USA, genauer, dem anglo-amerikanischen Block? Wie realistisch war es zu hoffen, dass Europa, speziell Deutschland, sich noch an seine nach 1945 gefassten Beschlüsse erinnern würde, eine Friedensmacht, gar ein Vermittler zwischen den Blöcken sein zu wollen? War eine Wende der europäischen, speziell der deutschen Politik in diese Richtung noch zu erwarten?
Heute ist es der neue deutsche Bundeskanzler, der von einer Wende spricht, sogar von einer Zeitenwende. Aber diese Zeitenwende verkehrt die Friedensbotschaft, für die Europa, für die Deutschland nach dem Krieg antreten wollte, in ihr Gegenteil: Kriegsbefürwortung als Weg zum Frieden.
Um die Situation, in die wir gekommen sind, greifbarer zu machen, möchte ich Ihnen zwei Zitate aus dem aktuellen politischen Alltag unseres Landes zur Kenntnis bringen.
Das erste stammt von unserer gegenwärtigen Außenministerin, Frau Baerbock. Sie ließ sich, im Zuge ihres Kreuzzuges gegen Russland, kürzlich mit folgendem Satz vernehmen:
„Auch ich weiß, wie teurer der wöchentliche Einkauf mittlerweile geworden ist, aber wir wissen alle genauso, wenn wir sagen würden, jetzt hören wir auf die Ukraine zu unterstützen, dann wird die Butter ja nicht wieder billiger.“
Sie lachen. Ja, auch ich habe über diesen dummen Satz gelacht. Aber wer erinnert sich da nicht an ähnliche Sätze, die in Deutschland schon einmal gesprochen wurden? „Kanonen statt Butter“, hieß es seinerzeit. Jetzt benutzt die heutige Außenministerin Deutschlands ein vergleichbares Bild, auch wenn das Bild, nebenbei gesagt, nicht einmal stimmt. Das tut sie in einer Situation, in der mit jedem Tag offenbarer wird, dass die Milliarden, die in die Bewaffnung der Ukraine geschickt werden, unser Sozialsystem, unsere Wirtschaft zerstören. Bedarf es da noch eines Kommentares, welcher Geist aus solchen Sätzen spricht?
Das zweite Zitat, das ich ihnen geben möchte, stammt aus dem Internetdienst, „The Pionier Briefing“. Der ‚Pionier‘ ist eine Medienplattform, angesiedelt zwischen Presse und TV, die täglich erscheint. Das ist digitaler Mainstream mit seriösem Anspruch auf dem Niveau von FAZ, Spiegel und Zeit. Auf der Eingangsplattform dieses Mediums erschien am 04.10.2023 der Haupttext unter der Überschrift: “Europa im Stahlgewitter“. – Auch das klingt bekannt, oder?
Es folgte der Text: „Der alte Spontispruch ‚Du hast keine Chance, also nutze sie!‘ gilt auch im Europa dieser Tage. Die politische Klasse des Kontinentes wirkt merkwürdig aufgekratzt, obwohl Europa an seiner Ostflanke militärisch angegriffen wird, an der Südgrenze von einem Flüchtlingsstrom herausgefordert wird, im Innern durch Geldentwertung gepeinigt wird.“
Inwiefern und von wem Europa „militärisch angegriffen“ wird und wodurch der Flüchtlingsstrom und die Geldentwertung verursacht werden, dazu kein Wort.
Und weiter: „Als wäre das nicht schon Herausforderung genug, kommen drei falsche Freunde hinzu, die Europa unter Druck setzen.
Der falsche Freund Nr. 1 ist Viktor Orban., der in dem slowakischen Ministerpräsidenten Robert Fico einen Mitstreiter gefunden hat. Er spielt mit Putin und gegen die EU, verweigert sich den westlichen Sanktionen und wird für diesen Opportunismus mit günstigen Energiekontrakten belohnt. Viktor Orban ist der Brutus der Europäischen Wertegemeinschaft.
Der falsche Freund Nr. 2 sitzt in Ankara. Erdogans Türkei ist kein EU-Mitglied, aber NATO-Staat, was den Machthaber nicht daran hindert, mit Putin zu paktieren. Allein 2022 eröffneten Russen 13.363 neue Unternehmen in der Türkei, auch mit dem Ziel, die Sanktionen des Westens zu umgehen. Gleichzeitig erhöhte die Türkei ihre Ölimporte aus Russland von durchschnittlich 98.000 Barrel pro Tag in 2021 auf 200.000 Barrel im Jahr 2022. Das Magazin ‚foreign policy‘ spricht von Erdogans ‚Deal mit dem Teufel‘, Joe Biden.
Und drittens: Auch Amerika ist ein fragwürdiger Partner der Europäer geworden. Unter dem Druck der Republikaner hat der US-Präsident Joe Biden seinen Haushaltskompromiss damit erkauft, dass die USA vorerst keine weitere Unterstützung für die Ukraine bereitstellen. Damit ist der größte Financier des Anti-Putin-Paktes fürs Erste entfallen.“
Und über all dem steht als Einleitung der Satz:
„Gerade dieser Druck aus einer feindlichen Umwelt sorgt in Kerneuropa für Kompression. Das Zusammentreffen von russischem Militarismus, amerikanischem Isolationismus und osteuropäischem Opportunismus zwingt die Kerneuropäer zu politischer Intimität. Inmitten des europäischen Stahlgewitters wird – wenn die Presswehen weiter glücklich verlaufen – Großes geboren.“
Was sagen Sie dazu? Was wird da Großes geboren? Das klingt jedenfalls nicht wie ein Ruf nach Frieden, aber solche Töne kann man heute Tag für Tag in Presse und Fernsehen unseres Landes lesen oder hören.
Schauen wir nun auf die andere Seite, auf Russland: Vor kurzem trat dort die Waldai-Konferenz zusammen. Sie entspricht in etwa der Münchner Sicherheitskonferenz, wo sich Potentaten aus Politik, Wirtschaft und Medien des Westens einmal im Jahr zu strategischer Bestandsaufnahme versammeln. Die Waldai-Konferenz, die es auch schon seit mehreren Jahren gibt, ist sozusagen das östliche Pendent aus dem russischen Bündnis-Umfeld.
Auf der Konferenz stellte Wladimir Putin sich, wie er das jedes Jahr tut, vier Stunden lang den Fragen des Auditoriums. Unter anderem hielt er selbst eine Rede, in der er die gegenwärtigen globalen Wandlungsprozesse und die Rolle erläutert, in der Russland sich darin sieht.
Aus dieser Rede will ich hier nur einen Satz zitieren. Im Übrigen empfehle ich ihnen, wenn sie Zugang zum Internet haben, sich diese Rede selbst anzuschauen, denn was davon in unseren Medien erschienen ist, ist gleich Null oder verzerrt.
Putin sagte dort unter anderem: „Ich bin überzeugt, dass sich die Menschheit nicht auf Zersplitterung in konkurrierende Segmente zubewegt, nicht auf eine neue Konfrontation der Blöcke, was auch immer ihre Motivation sein mag, nicht auf den seelenlosen Universalismus einer neuen Globalisierung, sondern im Gegenteil, dass die Welt auf dem Weg einer Synergie von Staaten-Zivilisationen ist, zu großen Räumen und Gemeinschaften, die sich auch als solche empfinden.“
Aus meiner Lektüre des Textes kann ich ergänzen: Es geht aus Sicht Russlands darum, dass diese Staaten-Zivilisationen, was eine andere Begrifflichkeit für multipolar ist, miteinander eine neue Ordnung der gegenseitigen Achtung und Kooperation entwickeln. Das zu fördern, so Putin, sei Russlands Anliegen.
Nun möchten Sie vielleicht einwenden: Der Krieg, auf den Russland sich in der Ukraine eingelassen hat, sei für diese Perspektive einer globalen Kooperation eine schwere Hypothek. In der Tat, und sie wird für Russland auch nach einem Ende der Kämpfe nicht so bald abzutragen sein. Ohne Blick auf die Vorgeschichte des Krieges ist allerdings nicht zu verstehen, wie diese Hypothek zustande kam. Es ist die Geschichte der schrittweisen Einkreisung Russlands durch EU- und NATO-Erweiterungen, der Unterstützung der sog. Bunten Revolutionen, insonderheit die Befeuerung des Regime-Changes in der Ukraine 2014 und deren faktische Eingliederung in die NATO, verbunden mit einer Zurückweisung aller Vorschläge Russlands für die Einrichtung einer neuen Sicherheitsarchitektur in Eurasien.
Man muss hier an den US-Strategen Zbigniew Brzezinski erinnern, der nach dem Zerfall der Sowjetunion in seinem Buch „Die einzige Weltmacht“ schon kurz nach dem Ende der Sowjetunion erklärte, zwar seien die USA nun die „einzige Weltmacht“ geworden, wer aber die Welt beherrschen wolle, müsse Eurasien beherrschen. Wer Eurasien beherrschen wolle, müsse Russland beherrschen. Um Russland beherrschen zu können, müsse die Ukraine aus dem Einflussbereich Russlands herausgelöst werden. Auf dieser Linie hat sich die westliche Politik in den Jahren bis zu der heutigen Konfrontation vollzogen. Diese Realität macht aus dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine keinen Dialog – das Problem ist nur, dass die westliche Seite jeden Dialog über gemeinsame Sicherheit abgelehnt hat.
Die Hypothek dieses Einmarsches wird für Russland nur mit Mühe abzutragen sein. Dennoch bleibt wahr, dass die Positionen, wie ich sie von Frau Baerbock, aus dem „Pionier“ und von Putin zitiert habe, gegensätzlicher nicht sein könnten. Russland bemüht sich darum, nach seinem eigenen Muster des Vielvölkerorganismus, des Vielvölkerstaates, eine multipolare Welt von Bündnispartnern, Staaten und Gemeinschaften mit Orientierung auf die UNO zu fördern, die miteinander gleichberechtigt kooperieren. Dem erweiterten „Westen“ geht es um den Erhalt seiner Weltdominanz nach den Vorgaben der von seinen Vertretern ausgerufenen unipolaren „regelbasierten Ordnung“ unter US-Führung, was je nach wechselndem Interesse an der UNO vorbeigeht. Das ist der Stand der Dinge, den wir heute haben.
In der Ukraine wird diese Konfrontation heute stellvertretend zugespitzt. Jetzt kommt noch der übergreifende Nahost-Krieg dazu, in dem sich die Konfliktfelder ergänzen.
Zu all dem wären hier viele Details vorzubringen. Ich will mich aber darauf beschränken, die Grundlinie zu skizzieren, die immer deutlicher hervortritt, denn noch etwas anderes muss hier gesagt werden: Hinter der Polarisierung der Blöcke, die sich gegenwärtig herausbildet – also Russland, China und südliche Partner hier, der anglo-amerikanische Block mit der Europäischen Union als Anhang dort – entwickelt sich eine Spannung, in der auch der Einsatz von Atomwaffen wieder ins strategische Kalkül gebracht wird.
Es gibt Menschen im Westen, auch hier in Deutschland, die den Einsatz von Atomwaffen unverhohlen fordern; es gibt solche Menschen auch in Russland. Beides muss man wahrnehmen. Das ist keine Frage. Nur wahrnehmen muss man auch, dass hier und dort sehr unterschiedlich, geradezu diametral auf solche Vorstellungen reagiert wird.
In Russland gibt es einen Herrn Karaganow, einen bekannten Strategen und Wissenschaftler, hoch angesehen in Russland und auch international bekannt. Er sprach sich auf dem Waldai-Forum, von dem ich schon berichtet habe, jetzt öffentlich für den Einsatz von Atomwaffen aus. Er spricht dabei von einem kleineren, exemplarischen Schlag, mit dem der Westen dazu gebracht werden könne, Russland wieder ernst zu nehmen und nicht weiter zu eskalieren. Anders, argumentiert er, könne der Bedrohung aus dem Westen nicht mehr begegnet werden.
Putin antwortete darauf auf dem Forum, also ebenso öffentlich: „Ich verstehe Ihre Gefühle, dass Sie sich bedroht fühlen, aber das, was Sie vorschlagen, wird mit uns nicht geschehen. Wir haben eine Militär-Doktrin, die ganz eindeutig keinen Erstschlag vorsieht, die ganz eindeutig schreibt, wir reagieren nur spiegelbildlich. Wenn wir mit Atomwaffen bedroht werden oder wenn unser Staat in seiner Existenz bedroht wird, dann muss der Gegner wissen, dass er damit einen Gegenschlag auslösen kann. Aber nur so. Alles andere ist nicht unsere Politik.“
Von einer solchen Antwort Putins hat man in unseren Leitmedien nichts gehört und nichts gelesen.
Demgegenüber auf der anderen Seite die amerikanische Militärdoktrin: Sie sieht einen Erstschlag ausdrücklich als Möglichkeit, als prinzipielle Ermächtigung vor. Das kennzeichnet die unterschiedlichen Haltungen von Grund auf.
In dieser Situation eines labilen atomaren Patts, das inzwischen nicht mehr von gültigen Verträgen eingegrenzt wird, befinden wir uns, eingefasst in die Angst vor gegenseitiger Vernichtung.
Ja, liebe Anwesende, das sieht alles so aus, als ob unsere Welt erneut in eine große Katastrophe taumeln könnte, wenn wir nicht die Notbremse ziehen – oder, um in dem Bild zu bleiben nicht zu einem neuen Bewusstsein durchstarten. Es macht keinen Sinn, die Augen davor zu verschließen. Die Frage stellt sich allein: Was tun?
In dem Zusammenhang gäbe es viele Einzelheiten anzusprechen. Das werde ich jetzt aber nicht tun. Ich werde Ihnen stattdessen einen Text vortragen, auf den ich im Zug der Vorbereitungen meines heutigen Vortrages gestoßen wurde. Es handelt sich um einen aus fünfzehn Vorträgen, die Rudolf Steiner im Oktober 1919 in Nachbetrachtung des damals soeben beendeten Ersten Weltkrieges gehalten hat, zusammengefasst in GA 191 unter dem Titel „Soziales Verständnis aus geisteswissenschaftlicher Erkenntnis.“ Da ist es der vierte Vortrag, in dem Steiner Lehren aus der voran gegangenen Katastrophe zieht.
Ich werde Ihnen jetzt Auszüge davon vorlesen und dass verbinden, mit dem, was heute geschieht. Der Vortrag beginnt wie folgt:
„Ich möchte in diesen Tagen hier vor Ihnen einiges entwickeln von dem, was zur Auffassung und zum Handeln innerhalb unserer gegenwärtigen Zivilisation notwendig ist. Es wird kaum schwierig sein, aus den Tatsachen, die ja gewissermaßen heute überall einem entgegenleuchten, sich die Erkenntnis zu verschaffen, dass unsere gegenwärtige Zivilisation Niedergangserscheinungen, Niedergangskräfte in sich enthält und dass die Notwendigkeit vorhanden ist, sich gegenüber diesen Niedergangskräften unserer Zivilisation sich zu wenden zu dem, was nötig ist an neuen Kräften dieser Zivilisation zu zuführen. Wenn wir diese unsere Zivilisation überblicken, dann sehen wir, dass sie hauptsächlich drei Niedergangskräfte in sich enthält, drei Kräfte, die diese Zivilisation nach und nach zu Fall bringen müssen. Alles dasjenige, was wir schon erlebt haben, was wir schon erlebt haben an betrübenden Erscheinungen im Gang der Menschheitsentwicklung, was wir noch erleben werden – für viele Dinge stehen wir ja erst am Anfange, – das alles sind nur einzelne Symptome für dasjenige, was sich im Großen Ganzen vollzieht als eine Niedergangserscheinung in unserer Zeit.“
Steiner spricht dann von drei großen Strömungen in der Welt, der westlichen, wie er sie nennt, kosmogonischen amerikanischen, also der Welt zugewandten, der östlichen altruistischen, indisch, chinesisch, asiatischen, und der mittleren europäischen intellektuellen freiheitlichen. Diese drei Kräfte gebe es, bekräftigt er, aber sie hätten heute keinen verbindenden Blick auf die Welt, seien vereinseitigt, stünden heute gegeneinander, überlagerten sich, schränkten sich gegenseitig ein, statt sich gegenseitig zu befruchten. Mehr noch: In der Vereinseitigung dieser Strömungen, wie sie heute stattfinde, drohe der asiatische Altruismus zum Kollektivismus und zum Zwang zu werden, das amerikanische kosmogonische Interesse zu einem bloß ökonomisch motivierten Streben nach Weltherrschaft, der europäische Freiheitimpuls zu egomanischem Individualismus. Darin liege das große Problem der gegenwärtigen Zeit.
„So entsteht die Frage“, fährt Steiner dann fort: „Wie können wir hinauskommen über diese Niedergangserscheinungen unserer Zivilisation? – Überkleistern kann man dasjenige, was Niedergangserscheinungen unserer Zivilisation sind, nicht. Dem Gesagten gegenüber handelt es sich darum, dass man es unbefangen und rückhaltlos ins Auge fasst, dass man sich keinen Illusionen hingibt. Man muss sich sagen: Es ist da, was an Niedergangskräften sich zeigt, und man muss nicht glauben, man könne es irgendwie korrigieren oder ausgleichen, sondern es sind starke Niedergangskräfte da, die sich so charakterisieren lassen, wie wir das eben ausgesprochen haben. Dagegen handelt es sich darum, sich nun zu wenden zu dem, woraus Kräfte zum Aufstieg zu gewinnen sind. Das kann man nicht durch Theorie. Es können in der heutigen Zeit die Menschen die allerschönsten Theorien erfinden, die allerschönsten Grundsätze haben – mit bloßen Theorien ist nichts anzufangen. Etwas anzufangen im Leben ist nur mit den Kräften, die wirklich auf dieser Erde vorhanden sind, die man aufrufen muss. Wäre unsere Zivilisation durch und durch so, wie ich sie jetzt geschildert habe, dann könnten wir nichts anderes tun als uns sagen, diese Zivilisation müssen wir zugrunde gehen lassen und an dem zu Grunde gehen teilnehmen, denn jeder Versuch einer Korrektur dieser Erscheinung aus irgendwelchen bloßen Ideen oder Vorstellungen heraus ist ein Unding. Man kann nur fragen: Liegt die Sache nicht doch eigentlich tiefer? – Und sie liegt tiefer. Sie liegt nämlich so, dass die Menschen heute – wie ich von anderen Gesichtspunkten hier öfter schon ausgeführt habe – allzu sehr nach dem Absoluten drängen. Wenn sie fragen, was ist wahr – so fragen sie danach, was ist im absoluten Sinne wahr? – nicht: Was ist für ein bestimmtes Zeitalter wahr? – Wenn sie fragen: Was ist gut – so fragen sie: Was ist im absoluten Sinne gut. Sie fragen nicht: Was ist für Europa gut? Was ist für Asien gut? Was ist für das zwanzigste Jahrhundert gut, was ist für das 25. Jahrhundert gut? – Sie fragen nach dem absoluten Gutsein und Wahrsein. Sie fragen nicht nach dem, was in der konkreten Menschheit wirklich ist. Wir aber müssen uns die Frage anders stellen, denn wir müssen auf die Wirklichkeit schauen.“
Auf die Wirklichkeit zu schauen bedeute, um das hier zusammenzufassen, was Steiner des Weiteren ausführt, die Menschen, die verschiedenen Menschengruppen und Kulturen in ihrer unterschiedlichen Art wahrzunehmen. Nur im gleichberechtigten Zusammenwirken des Verschiedenen könne eine Zukunft gewonnen werden.
Liebe Freunde, ich empfehle dringend, diesen Text zu lesen. Zwar wurde dieser Vortrag vor hundert Jahren gehalten und er mag manchem wie ein vergeblicher Ruf aus der Wüste erscheinen. Er hat jedoch seine Bedeutung und Aktualität in keiner Weise verloren, im Gegenteil, er ist aktueller denn je.
Unübersehbar deutlich wird das, wenn wir uns anschauen, wie sich die die Geschichte nach dem Ersten Weltkrieg bis heute entwickelt hat. Da finden wir uns erkennbar in einem evolutionären Prozess, der nicht allein von einzelnen Personen abhängt. Auch wenn manche Menschen glauben, dass sie die Politik alleine machen, so ist das doch ein gewaltiger Strom, sind das verschiedene Ströme, die da miteinander und gegeneinander gewirkt haben und weiter wirken. Da kann man sehen wie Niedergang zum einen, wie Bewegungen dagegen sich mehrmals wiederholen. Wir haben am Anfang des neunzehnten Jahrhunderts, also genauer, gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts die Krise der Kolonialismus, die zum ersten Weltkrieg geführt hat. Das Ergebnis war der Wilsonsche Impuls zur Neuordnung der Welt, also der Impuls, die Kolonien überführen zu wollen in freie Nationalstaaten. Freie Nationalstaaten, das hieß dann konkret allerdings, dass diese Nationalstaaten dem Lande hörig blieben, dessen Kolonie sie vorher waren. So wurde aus der kolonialen Welt zwar eine Welt der vielen Nationen, aber eine solche, in der alle diese Nationen – jede für ihre eigene Ökonomie verantwortlich – alle an demselben Kuchen nagten.
Als Ergebnis dieser Öffnung kam, was kommen musste, zunächst der Völkerbund, das war der positive Schritt, danach aber der Rückschlag: der zweite Weltkrieg, in dessen Zug das koloniale Erbe noch einmal in einem zweiten Schub der Entkolonialisierung aufgerollt wurde. Nach dem zweiten Weltkrieg dann große Einsicht: Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus. Gut! Aber dann die Polarisierung der Welt in Sowjetismus und Kapitalismus, kalter Krieg, kein heißer, aber ein kalter mit heißen Nebenschauplätzen. Danach die Öffnung durch Gorbatschow: Luft! Freude! Freiheit! Und was erleben wir jetzt? Erneute Zuspitzung.
Diese Entwicklung kriecht wie eine Raupe durch die Zeit. Sie wissen, wie eine Raupe kriecht? Sie zieht sich zusammen, macht einen Buckel und schiebt sich voran. Dann zieht sie sich wieder zusammen, macht einen neuen Buckel und schiebt sich weiter nach vorne. Danach buckelt sie wieder und so schiebt sich die Raupe allmählich weiter voran. Aber so wird aus der Raupe kein Schmetterling! Also, aus einem Niedergang kein Aufstieg. Da bedarf es schon der Verpuppung. Dieses Bild ist mir aufgestiegen bei der Betrachtung der letzten 200 Jahre.
Ja, und jetzt erhebt sich natürlich die Frage: Wenn wir uns all das anschauen, was da immer wieder geschehen ist, und was gegenwärtig wieder geschieht, wo stehen dann wir als einzelner Mensch diesem Ganzen gegenüber? Das könnte einen wirklich erdrücken. Also, ich finde schon, dass man damit sehr kämpfen muss, bei dem, was in der Welt passiert, zurzeit ganz besonders. Und so denke ich mir, dass dieser Aufsatz von Steiner da eine gewisse Hilfe geben kann, das Bewusstsein zu bilden, das für einen Übergang aus dem Kreislauf dieser ständigen Wiederholungen gebraucht wird.
Es fehlt in dem Vortrag allerdings eine Kleinigkeit, die heute als neue Realität hervortritt. Die Frage stellt sich: Kommt heute im Zuge einer dritten Welle der Entkolonialisierung aus der Afrikanischen Welt eine neue Strömung? Steigen aus dem arabisch-jüdischen Konflikt neue Kräfte entlang der Nord-Südachse des Globus auf oder bleibt die Ost-West-Achse die, die das bisherige Weltgeschehen bestimmt hat und die gegenwärtig in der ukrainischen Katastrophe kulminiert, die bestimmende Dynamik? Das sind Fragen, die sich heute brandheiß erheben. Wenn man sich nicht nur an alte Abläufe klammern will, muss man sich diesen Fragen stellen.
Und darüber hinaus, stellt sich schließlich die weitere Frage: Was hat das alles mit mir zu tun, mit jedem Einzelnen? Es sind ja erst einmal allgemeine Gedanken, die ich hier vorgetragen habe. Was können wir tun? Was können wir dafür tun, dieses notwendige Bewusstsein von unserem Eingebundensein in diesen großen, den globalen, sage ich ruhig, diesen kosmischen Prozess wieder feiner zu entwickeln? Oder sind wir den Bewegungen der Strömungen, den Fehlentwicklungen, den Wiederholungen des ewig Gleichen hilflos ausgeliefert?
Ich möchte mich dieser Frage so annähern, dass ich sage: Was im Großen, das auch im Kleinen. So wie die große, globale Bewegung nur im Zusammenwirken der Teile fördernd wirken kann, die sich ihrer kosmischen Eingebundenheit bewusst sind oder es werden, so wie das auch für die verschiedenen Elemente des sozialen Lebens gilt, so gilt es auch für jeden einzelnen Menschen, der seine Wesenselemente in lebendigem Austausch halten muss. Einen anderen Weg als diesen der kritischen Arbeit an sich selber im Zusammenhang gegenseitiger Achtung und des raus resultierenden Ganzen sehe ich nicht.
Dies, liebe Freunde ist Stoff für einen weiteren Vortrag und Herausforderung für jeden Einzelnen von uns in der eigenen Lebensgestaltung.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.