Bei der Berufungsverhandlung am 11. Oktober 2023 in Reggio Calabria im Fall Domenico Lucano, ehemaliger Bürgermeister von Riace, wurden fast alle Anklagepunkte zurückgewiesen (Pressenza berichtete).
Der ehemalige Bürgermeister des kalabrischen Bergdorfs Riace, Domenico (Mimmo) Lucano, und 17 seiner Mitstreiter*innen waren in erster Instanz vor einem Gericht in Locri zu hohen Haft- und Geldstrafen verurteilt worden. Angeblich sei Domenico Lucano der Kopf einer kriminellen Vereinigung gewesen, die zum eigenen Vorteil Geflüchtete aufgenommen hätte.
Es gab zwar keine Beweise, ja im Gegenteil wurden die Vorwürfe durch die Protokolle umfangreicher (und unzulässiger) Abhörmaßnahmen eher widerlegt. Aber was nicht passte, wurde passend gemacht. So waren fehlerhafte Abschriften der Abhörbänder der Verurteilung zugrunde gelegt worden. Selbst seine nachweisliche Mittellosigkeit wurde Lucano vorgeworfen – sie sei gezielt eingesetzt worden und mit den Projekten der Aufnahme von Schutzsuchenden habe der damalige Bürgermeister sich politische Vorteile verschaffen wollen. Ein absurder Vorwurf, da er gar keine politische Karriere anstrebte.
Das Skandalurteil von 2021 wurde aufgehoben
So wurde Domenico Lucano am 30. September 2021 zu 13 Jahren und zwei Monaten Gefängnis verurteilt – deutlich mehr als die Staatsanwaltschaft mit sieben Jahren und elf Monaten gefordert hatte. Im Berufungsverfahren, in dem die Staatsanwaltschaft zehn Jahre und fünf Monate forderte, wurden nahezu sämtliche Anklagepunkte zurückgewiesen und das Urteil aus der ersten Instanz aufgehoben. Lediglich wegen einer falschen Beurkundung aus dem Jahr 2017 wurde Lucano zu eineinhalb Jahren Gefängnis auf Bewährung verurteilt. 16 seiner Mitstreiter*innen wurden freigesprochen, eine erhielt eine Bewährungsstrafe von einem Jahr.
Auch wenn ein vollständiger Freispruch erfreulicher gewesen wäre, kann dieses Urteil doch als ein Sieg der Solidarität und Menschlichkeit angesehen werden. Entsprechend groß war die Freunde bei den Unterstützer*innen, die zahlreich zum Prozess gekommen waren.
Seit Ende der 1990er Jahre hatten Tausende Geflüchtete in Riace Aufnahme gefunden – meist nur vorübergehend, aber anders als in den menschenunwürdigen Lagern konnten sie sich hier von den Strapazen der Flucht erholen. Domenico Lucano bekam weltweit Aufmerksamkeit und Anerkennung, Riace gilt seit vielen Jahren als vorbildliches Willkommensdorf.
Aufnahme Schutzsuchender und Belebung eines Bergdorfs
Die Unterstützung Schutzsuchender half auch dem Ort, der durch Anwanderung vom Aussterben bedroht war. Der Zuzug vieler junger Menschen, auch mit Kindern, belebte Riace, es gab wieder eine Kindertagesstätte und eine Schule und es gelang Domenico Lucano und anderen, mit solidarökonomischen Projekten einige Arbeitsplätze für Zugereiste und für Einheimische zu schaffen.
Diese jahrelang auch öffentlich geförderten Projekte wurde durch Repression und juristische Verfolgung zerstört. Aber mittlerweile macht Lucano weiter, nun befreit vom Amt des Bürgermeisteramtes, und mit finanzieller Unterstützung durch Spenden. So leben auch heute wieder etwa 40 Familien von Geflüchteten in Riace.
Während des Gerichtsverfahrens hatte Domenico Lucano immer wieder betont, dass er alles wieder tun würde. In seinem Buch „Das Dorf des Willkommens“ (2021 auf deutsch erschienen) schrieb er:
„Durch ein absurdes Zusammentreffen, durch eine Laune des Windes, ist die Geschichte auf ein Dorf gestoßen, das mit dem ‚Virus der Menschlichkeit‛ infiziert war, einen Ort, an dem es möglich war, sich vorzustellen, dass wir alle Menschen sind. Das hat eine tiefe Spur hinterlassen, das ist das Erbe, das wir weitergeben, der Traum, dessen Verwirklichung noch aussteht.“
Menschlichkeit und Solidarität haben gewonnen
Die Aufhebung des offensichtlich politisch begründeten Skandalurteils der ersten Instanz im Berufungsverfahren ist eine Ermutigung, auch für andere, nicht aufzugeben. Die jahrelange politische Verfolgung hat ihre Spuren hinterlassen, aber letztlich haben trotz Repression in diesem Fall Menschlichkeit und Solidarität gewonnen.
Der Artikel von Elisabeth Voß wurde bei der Freitag vorab veröffentlicht.
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