Annie Lacroix-Riz analysiert den „Mythos von der amerikanischen Hilfe“ in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg und den Weg zur Durchsetzung der US-Hegemonie.
Der Marshall-Plan? Das war, so lautet die im Westen gängige Ansicht, die auch in Deutschland von offiziöser Seite vertreten wird, ein selbstloses Wiederaufbauprogramm der Vereinigten Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg. Am 5. Juni 1947 vom damaligen US-Außenminister George C. Marshall öffentlich vorgestellt, sollte das Programm der wegen der Kriegsschäden immer noch darbenden „Wirtschaft in Europa wieder auf die Beine helfen“ und zugleich die „Ausbreitung des Kommunismus verhindern“: So erläutert es exemplarisch das von der Staatsstiftung „Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland“ getragene Webportal Lebendiges Museum Online (LeMO). Washington stellte demnach in den Jahren von 1948 bis 1952 völlig uneigennützig riesige Summen bereit, damals rund 12,4 Milliarden US-Dollar – nach heutigem Wert rund 157 Milliarden Euro –, um die Lebensverhältnisse in Westeuropa zu verbessern. Der Marshall-Plan – ein humanitäres Wunderwerk? Wer der offiziösen Historiographie nicht recht glauben mag, findet ausführliche Hintergründe in dem jüngsten Buch der französischen Historikerin Annie Lacroix-Riz über „Die Ursprünge des Marshall-Plans“ bzw., so der Untertitel, den „Mythos von der amerikanischen ‘Hilfe‘“.
Lacroix-Riz nimmt in ihrer wie gewohnt minutiösen Analyse die Jahre von 1941 bis 1946 in den Blick – die Zeit, in der die Vereinigten Staaten ihren „Aufstieg zur globalen Hegemonie“ durchsetzten. Der französische General Paul-André Doyen, seit dem 6. September 1940 Leiter der französischen Delegation bei der Deutschen Waffenstillstandskommission, hatte es bereits im Juli 1941, das militärische Scheitern des Deutschen Reichs sehr früh ahnend, vorausgesagt: Die USA, eigentlicher Sieger des Ersten Weltkriegs, würden aus dem Zweiten noch stärker hervorgehen, die Staaten Europas hingegen, die einst noch mit ihnen hätten rivalisieren können, empfindlich geschwächt; die Welt werde sich „in den nächsten Jahrzehnten dem Willen der Vereinigten Staaten unterwerfen müssen“. Doyen hatte recht.
Im erwähnten Zeitraum legten die Vereinigten Staaten die Grundlagen dafür – nicht nur auf militärischem Feld, vor allem auf der Ebene der Ökonomie. Wichtige Marksteine waren etwa die Lend-Lease-Verträge, die ab 1941 die Lieferung kriegswichtiger Güter an alliierte Länder regelten, offiziell auf Leihbasis; sodann die Ergebnisse von Bretton Woods im Juli 1944, die die Dominanz des US-Dollar sicherten; speziell für Frankreich schließlich noch die Blum-Byrnes-Vereinbarungen vom Mai 1946, die für US-Kulturprodukte, besonders Filme, den Zugang zum französischen Markt erzwangen: All diese Marksteine trugen entscheidend dazu bei, US-amerikanischen Waren und US-amerikanischem Kapital den Weg nach Europa zu bahnen. Der Marshall-Plan war bloß noch das Tüpfelchen auf dem i: Er steigerte den Absatz von US-Produkten in Westeuropa weiter und band die Länder dort noch enger an die USA; letztlich sicherte er damit die US-Hegemonie.
Liegt der Fokus bei Lacroix-Riz zunächst auf Frankreich, so fallen doch zahlreiche wichtige Erkenntnisse für die allzu oft ignorierte Vorgeschichte der bundesdeutsch-US-amerikanischen Nachkriegsbeziehungen an, die in die Zwischenkriegszeit zurückreicht und selbst im Zweiten Weltkrieg aufgespürt werden kann. Zwar orientierte Washington in seiner Nachkriegspolitik darauf, Westeuropa auf breiter Fläche möglichst eng an sich zu binden; so gingen etwa ein Viertel der Marshall-Plan-Gelder an Großbritannien, ein Fünftel an Frankreich, elf Prozent an Italien, acht Prozent an die kleinen Niederlande und nur zehn Prozent an die im Entstehen begriffene Bundesrepublik. Schon während des Kriegs aber konnten US-Unternehmer sowie -finanziers erreichen, dass wichtige Pläne des State Department, wie Lacroix-Riz schreibt, „um Deutschland zentriert“ waren. Alte transatlantische Verflechtungen jener Zeit – der Ford-Konzern ist nur das prominenteste Beispiel – führt Lacroix-Riz zahlreich an.
Wer „Les origines du plan Marshall“ liest, erfährt aufschlussreiche Hintergründe über alte Bekannte – über Carl Joachim Friedrich etwa, der sich als Vater der sogenannten Totalitarismustheorie einen Namen gemacht hat, der aber an der Harvard University auch Funktionäre für die US-Besatzungsherrschaft in Deutschland ausbildete. Oder über den Bankier Kurt von Schröder, der hierzulande als Organisator eines folgenreichen Treffens mit dem Reichskanzler in spe Adolf Hitler am 4. Januar 1933 in Köln-Lindenthal bekannt ist, nicht unbedingt aber für seine transatlantischen Kontakte. Auch über Personal, das heute als Urgestein der EU gilt, finden sich aufschlussreiche Passagen – über Jean Monnet etwa, der die Blum-Byrnes-Vereinbarungen mit aushandelte: ein „Modell der ‘atlantischen Eliten‘“, konstatiert Lacroix-Riz.
Mit „Les origines du plan Marshall“ hat Lacroix-Riz eine weitere Analyse vorgelegt, die die polit-ökonomischen Tiefenschichten der Geschichte Europas im 20. Jahrhundert offenlegt – wie zuvor etwa ihre Werke „Le choix de la défaite : les élites françaises dans les années 1930“, „L’intégration européenne de la France : La tutelle de l’Allemagne et des États-Unis“ oder „Les élites françaises entre 1940 et 1944 : de la collaboration avec l’Allemagne à l’alliance américaine“. Wer wissen will, welche Interessen den Kontinent geformt und zu dem gemacht haben, der er heute ist, findet viele Antworten in den tiefschürfenden Studien der französischen Historikerin.
Annie Lacroix-Riz: Les origines du plan Marshall. Le mythe de «l’aide» américaine. Armand Colin. Malakoff 2023. 576 Seiten. 29,90 Euro.