Urs P. Gasche für die Online-Zeitung INFOsperber
Tufekci ist eine türkischstämmige US-Soziologin und ausserordentliche Professorin an der Universität von North Carolina. Sie schreibt für das Magazin The Atlantic, für Scientific American und die New York Times.
Die iranische Frauenrechtsaktivistin Narges Mohammadi habe für ihren Kampf gegen die Unterdrückung der Frauen im Iran den Friedens-Nobelpreis verdient. Doch Tufekci erinnert in der New York Times daran, dass auch in Saudi-Arabien und anderen Golfstaaten mutige Frauen gegen die Unterdrückung der Geschlechter gekämpft hätten und inhaftiert, gefesselt und zum Schweigen gebracht worden seien. Trotz einer Handvoll Reformen in jüngster Zeit in der Region seien Frauen immer noch rechtlichen, sozialen und politischen Einschränkungen und Unterdrückung ausgesetzt.
Es wäre möglich gewesen, den Nobelpreis an drei Frauen zu vergeben
Nur politisches Kalkül könne erklären, warum die westlichen Länder zu dieser Unterdrückung der Frauen schweigen. Ihre Abhängigkeit von Saudi-Arabien und anderen Golfstaaten in Bezug auf Öl, Investitionen und wohl auch Sicherheit nähre diese Heuchelei.
Doch das Nobelpreiskomitee sollte sich davon nicht beeinflussen lassen und für seine Prinzipien einstehen. Es wäre an der Zeit gewesen, erklärt Tufekci, auch Freiheitskämpferinnen aus diesen einflussreichen arabischen Ländern zu würdigen. Das wäre ohne weiteres möglich gewesen: «Da sich jedes Jahr bis zu drei Personen den Preis teilen können, hätte das Komitee neben Mohammadi zwei weitere Frauen ehren können.»
Tufekci zählt mögliche Kandidatinnen gleich auf:
Loujain al-Hathloul aus Saudi-Arabien
Nach ihren eigenen Angaben wurde sie gefoltert und inhaftiert. Nachdem sie 2018 aus den Vereinigten Arabischen Emiraten entführt worden war, wurde sie mit einem Einreiseverbot und strengen Auflagen belegt. Ihr drohen weitere Haftstrafen und Folter. Ihre «Verbrechen» reichen von der Kampagne für das Recht von Frauen, Auto zu fahren, bis hin zur Forderung nach einer Reform der repressiven Gesetze zur männlichen Vormundschaft in Saudi-Arabien. Diese Vormundschaften schliessen die Frauen von vielen Aktivitäten aus, wenn kein männlicher Vormund anwesend ist oder die Aktivität erlaubt.
Samar Badawi aus Saudi-Arabien
Zu den «Verbrechen», für die Badawi in den letzten zehn Jahren mehrfach in Saudi-Arabien verhaftet wurde, gehören der Versuch, sich als Wählerin registrieren zu lassen, die Forderung nach einer Reform der repressiven männlichen Vormundschaft und das Eintreten für das Recht, Auto zu fahren. Seit ihrer Entlassung aus einer dreijährigen Haft im Jahr 2021 hört man wenig von ihr. Wie viele andere saudische Aktivistinnen darf sie das Land wahrscheinlich nicht verlassen. Ihr drohen weitere Haftstrafen, wenn sie sich weiterhin zu Wort meldet.
Nouf Abdulaziz aus Saudi-Arabien
Sie wurde jahrelang inhaftiert und unter der Bedingung freigelassen, dass sie ihren Aktivismus aufgibt. Ihr «Verbrechen» bestand darin, sich für die Rechte der Frauen eingesetzt zu haben. Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation ALQST wurde sie im Gefängnis gefoltert.
Ghada Jamsheer aus Bahrain
Sie wurde inhaftiert, schikaniert und überwacht. Ihr «Verbrechen» bestand darin, eine Reform der unterdrückerischen Frauen- und Familiengesetze in Bahrain zu fordern.
Fortschritte, die kaum der Rede wert sind
Es gebe Fortschritte in der Region, werde manchmal gesagt. Dieser Fortschritt sehe beispielsweise so aus, sagt Tufekci: Bei einer kürzlich durchgeführten Reform in Saudi-Arabien wurde die Klausel geändert, die es einem Mann bisher erlaubt hatte, sich von seiner Frau scheiden zu lassen, ohne sie darüber zu informieren. Jetzt erhält sie eine SMS, die sie über seine einseitige Entscheidung informiert.
Nach vernünftigen Massstäben würden die jüngsten, minimalen Fortschritte nicht annähernd ausreichen, um den Regierungen der Region einen Freibrief zu erteilen. Diejenigen, die sich wehren, würden durch Inhaftierung, Hausarrest und Drohungen schnell zum Schweigen gebracht. Umso wichtiger sei es, auch in arabischen Staaten die wenigen anzuerkennen, denen es gelingt, ihre Kampagnen lange genug aufrechtzuerhalten, um im Ausland wahrgenommen zu werden.
Die iranische Gefangene Narges Mohammadi und ihre Tausenden von Mitstreiterinnen würden ihre höchste Auszeichnung verdienen. Doch beim Nobel-Friedenspreis gehe es um Fairness und noch um viel mehr: Der Preis, der einseitig diese mutige Frau im Iran würdige und nicht auch mutige Frauen in arabischen Staaten, werde «zu einem Symbol für westliche Gleichgültigkeit, Heuchelei und selektive Interessen».