Julian Assange muss uns nicht mehr vorgestellt werden. Sein Kampf ist unser Kampf, der Kampf für die Freiheit der Meinungsäußerung: eine Freiheit, die heutzutage zunehmend durch die grassierende Desinformation und die „Meinungsdiktatur“ bedroht ist, die immer mehr in unsere Demokratien eindringt und sie korrumpiert!

Wer die öffentliche Meinung kontrolliert, kontrolliert die Welt, und die Mittel zur Manipulation dieser öffentlichen Meinung werden immer ausgeklügelter und befinden sich in den Händen von Regierungen, Oligarchen und Monopolkonzernen.

In diesem Jahr hat die Akademie der Künste in Berlin, eine Akademie, die vor 300 Jahren gegründet wurde, ihren Konrad-Wolf-Preis (in Erinnerung an einen Filmregisseur aus der ehemaligen DDR, der viele Jahre lang Präsident der Akademie war) Julian Assange gewidmet!

Da Julian Assange seit vier Jahren im Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh in London sitzt und gegen seine Auslieferung an die USA kämpft (wo ihm lebenslange Haft oder sogar die Todesstrafe droht), wurde der Akademiepreis von seiner Frau Stella Assange entgegengenommen, einer Anwältin, die ebenfalls für die Menschenrechte kämpft.

Stella und Julian Assange (Foto von Actvism, München)

In diesem Bericht werden mehrere Fotos gezeigt, die während der Preisverleihung aufgenommen wurden.

PRESSENZA hatte auch die Gelegenheit, mit Stella ein Interview über Julians aktuelle Situation zu führen. Stella Assange hob besonders die positive Rolle von Lula da Silva hervor, der auf Pressekonferenzen immer wieder über Julian Assange spricht. Lula sprach den Fall Julian auch in seiner Eröffnungsrede vor der UN-Generalversammlung in New York im vergangenen September an, wo er seine Freilassung forderte – unter großem Beifall der überwältigenden Mehrheit der anwesenden politischen Vertreter aus aller Welt!

Das Interview mit Stella Assange führte Vasco Esteves für PRESSENZA in Berlin am 22.10.2023


Pressenza: Wie ist die aktuelle rechtliche Situation von Julian? Wurde die öffentliche Anhörung in London abgehalten, um die endgültige Entscheidung über seine Auslieferung an die Vereinigten Staaten zu treffen? Hat er beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Berufung eingelegt? Und könnte diese Berufung seine Auslieferung verhindern?

Stella Assange: Es hat noch keine öffentliche Anhörung stattgefunden, wir warten noch ab. Der Termin der öffentlichen Anhörung könnte die letzte Phase von Julians Einspruch gegen seine Auslieferung in Großbritannien sein. Wenn er diese Phase verpasst, ist der Rechtsweg im Vereinigten Königreich für ihn ausgeschöpft.

Er muss zunächst abwarten, bis alle innerstaatlichen Rechtsmittel ausgeschöpft sind, bevor er den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anrufen kann. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte nimmt eine Berufung erst dann an, wenn im Vereinigten Königreich keine Berufungen mehr offen sind.

Wird diese Berufung die Auslieferung verzögern?

Nun, das hat der Europäische Gerichtshof zu entscheiden. Erstens, ob er den Fall annimmt oder nicht (was nicht automatisch der Fall ist), und wenn ja, kann er die sogenannte Regel-39-Anordnung auslösen, die darin besteht, das Vereinigte Königreich anzuweisen, nicht auszuliefern, während über seinen Antrag entschieden wird. Es sind also mehrere Schritte zu beachten. Der Europäische Gerichtshof kann die Anwendung der Regel 39 anordnen, und das Vereinigte Königreich muss dem nachkommen. Natürlich ist der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die letzte Instanz im System des Europarats. Ein Urteil zu Julians Gunsten könnte seine Auslieferung verhindern, ja.

Haben die Regierungen Portugals oder Brasiliens bisher Hilfe geleistet oder ihre Solidarität mit Julian Assange zum Ausdruck gebracht?

Meines Wissens nicht die portugiesische Regierung. Aber die brasilianische Regierung von Lula da Silva hat sich mehrmals zu Julians Fall geäußert. Lula da Silva sprach über Julian Assange in seiner Eröffnungsrede vor der UN-Generalversammlung in New York im vergangenen September. Auch auf Pressekonferenzen hat er sich wiederholt zu Julian geäußert.

Nun zu Deutschland. Annalena Baerbock, die Spitzenkandidatin der Grünen bei den letzten Wahlen, hat sich VOR den Wahlen für die Freilassung von Julian ausgesprochen. Jetzt, nach den Wahlen, spricht sie als deutsche Außenministerin nicht mehr über dieses Thema… Hast du mit ihr gesprochen? Und wie erklärst du dir ihren Positionswechsel?

Ich habe noch nicht mit Frau Baerbock gesprochen. Aber ich habe mit dem deutschen Außenministerium gesprochen. Die Regierung Merkel hat Beobachter geschickt, um Julians Fall diskret zu überwachen. Aber ich weiß nicht, ob die jetzige Regierung dies getan hat. Ich glaube, das Auswärtige Amt hat auch unter der Vorgängerregierung lediglich eine Erklärung abgegeben, in der es seine Besorgnis über Julians humanitäre Lage zum Ausdruck brachte. Was den Menschenrechtsbeauftragten der jetzigen Bundesregierung betrifft, so ist mir keine offizielle öffentliche Stellungnahme bekannt.

(Foto von Pressenza)

Andere Länder (z.B. Italien) tun viel mehr, um auf Julians Situation aufmerksam zu machen: z.B. durch die Ernennung zum Ehrenbürger von Neapel und anderen Städten und jetzt sogar der Hauptstadt Rom. Was fehlt hier in Deutschland?

Ich denke, dass Deutschland Julian an der Basis sehr unterstützt. Auch die deutsche Presse hat den Fall sehr positiv analysiert. Es gab, glaube ich, eine ARD-Dokumentation, die sehr gut ist. Der SPIEGEL hat eine Erklärung abgegeben, in der er sagt, dass das Verfahren eingestellt werden sollte, und er hat mich auch interviewt usw.

Aber auf institutioneller Ebene hinkt Deutschland hinter anderen großen europäischen Ländern hinterher. Italien ist natürlich ein hervorragendes Beispiel für die Mobilisierung durch Institutionen, um politische Positionen zu erreichen.

Wie erklärst du dir das und was denkst du darüber?

Ich kenne die deutsche Situation nicht sehr gut, aber was ich sehe, sind die Ergebnisse. Vielleicht sind die Deutschen ein bisschen introspektiv und wollen erst einmal die Situation bewerten, welche Fehler gemacht werden könnten. Ich glaube, Italien hat ein effektiveres demokratisches System. Und das meine ich nicht so, dass ich die Unterstützung, die in Deutschland sehr stark ist, schmälern will, aber ich sehe hier nicht die gleiche Art der Umsetzung wie in Italien.

In Berlin gibt es seit Jahren regelmäßig Aktionen und Mahnwachen für Julian. Was können die Menschen in Berlin tun, um noch mehr Druck für Julians Sache zu machen?

Die Bewegung für Julians Freilassung ist eine globale Bewegung. Sie ist etwas, das mit der Zeit wächst. Jeder hat andere Netzwerke, Freundschaften, Familienbeziehungen, Reichweite in den sozialen Medien oder Positionen in diesem oder jenem Sektor. Es gibt Leute, die auf den Platz einer Kleinstadt gehen, um einen individuellen Protest „Free Julian Assange“ zu veranstalten, die Größe seiner Zelle mit Kreide auf den Boden zu malen und dort an einem Sonntag für eine Stunde oder so zu bleiben. Für mich ist das ein Zeichen von Entschlossenheit und Engagement, und es ist inspirierend. Und wenn Menschen, die nicht unbedingt von diesem Fall wissen, andere Menschen sehen, die sich sehr engagieren, vor allem, wenn es sich um einen so schwerwiegenden Fall von Ungerechtigkeit handelt, denken sie: „Nun, wenn sich diese Person so sehr darum kümmert, dann sollte ich das vielleicht auch tun!“ Das ist sehr effektiv. Die „Free Assange“-Bewegung ist nicht zentralisiert. Und dann gibt es an jedem beliebigen Tag Proteste, Mobilisierungen und so weiter. Ich denke also, wir müssen uns organisieren, um weiterzumachen, um Menschen in Machtpositionen zu erreichen – entweder durch Briefe oder durch direkte Gespräche mit ihnen – und sie daran zu erinnern, was sie eigentlich tun sollten, wenn sie nicht das Richtige machen.

Wir leben in einer Welt, in der eine Art „Meinungsdiktatur“ wächst und unsere Demokratien von innen heraus zerstört. Der McCarthyismus und der Kalte Krieg sind zurück, auch in unseren Köpfen. Westliche Politiker schreien ständig gegen die Kriegsverbrechen anderer auf (Russland, Hamas usw.), aber ihre eigenen Kriegsverbrechen (zu deren Aufdeckung Julian Assange entscheidend beigetragen hat) werden ignoriert oder verharmlost… und ihre Informanten werden weiterhin rücksichtslos verfolgt. Was denkst du und wie fühlst du dich in einer derartigen Situation?

Ich denke, wir müssen erkennen, dass es für viele dieser großen westlichen Länder, die auch die größten Waffenexporteure sind, einen erheblichen Interessenkonflikt gibt. In der Tat sind sie Lieferanten von Krieg! Was die Einschränkung der Meinungsfreiheit angeht, so hat Julian erst letzte Woche eine Erklärung unterzeichnet. Sie heißt „Westminster-Erklärung“ und wurde von rund 140 Personen unterzeichnet: Medienschaffende, Aktivist*innen, aber vor allem Menschen von links und rechts. Menschen, die sagen, dass es heute eine Zensurindustrie gibt, eine Industrie, die die Berichterstattung kontrolliert, und dass wir zu einer Kultur der freien Meinungsäußerung zurückkehren müssen. Ich denke, dass wir ohne Meinungsfreiheit nicht hoffen können, den Frieden zu fördern, weil die Instrumente zur Kontrolle der Kommunikation zu stark sind, also müssen wir für diese beiden Dinge gleichzeitig kämpfen.

Eine persönliche Frage: Was hast du durch den Kampf gegen das System über dich selbst gelernt?

Nun, es ist wichtig, keine Angst zu haben und für das zu kämpfen, woran man glaubt. Die Angst ist unser größter Feind. Wir müssen in der Lage sein, frei zu kommunizieren. Ich kämpfe für meinen Mann. Ich glaube, viele Menschen wollen ihn frei sehen, nicht nur aus humanitären Gründen, sondern auch, weil sie verstehen, dass seine Freiheit auch sie betrifft. Ich glaube, ich habe gelernt, dass jeder Mensch eine wichtige Rolle dabei spielen kann, die Welt um sich herum zu beeinflussen und zu versuchen, sie zum Besseren zu verändern. Jede kleine Geste, die wir machen, prägt die Umwelt um uns herum, auch wenn wir es nicht sofort merken. Wir haben eine Wirkung. Wir lassen uns nur allzu leicht entmutigen und denken, dass wir nichts ändern können, dass die Mächtigen da oben nicht auf uns hören… aber das ist nicht der Fall!

Vielen Dank, Stella, für dieses Interview!

 Eingang zur Akademie der Künste (Foto: Pressenza)

Stella Assange mit einer Gruppe von Unterstützer*innen in Berlin (Foto: Niels L.)

Die Übersetzung aus dem Englischen wurde von Reto Thumiger vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!