Washington sucht großen Mittelostkrieg zu vermeiden, um sich weiter gegen China in Stellung bringen zu können. Berlin passt seinen Kurs gegenüber Israel an. Einsatz der Bundeswehr in Israel dennoch im Gespräch.

Die Bundesregierung passt ihren Kurs im jüngsten Nahostkrieg an die neue US-Linie an und fordert von Israel eine gewisse Mäßigung bei Blockade und Bombardement des Gazastreifens. Hatte sie bislang ausschließlich „Israels Recht auf Selbstverteidigung“ postuliert und damit nicht zuletzt in der EU heftigen Unmut ausgelöst, so schränkte Außenministerin Annalena Baerbock die Berliner „Solidarität“ am gestrigen Donnerstag auf den „Kampf gegen die Hamas“ ein und drang auf die Einhaltung des Völkerrechts. Hintergrund ist eine entsprechende Kurskorrektur der Vereinigten Staaten. Diese haben zuletzt in Nah- und Mittelost spürbar an Einfluss verloren, was sich unter anderem in der Annäherung zwischen Saudi-Arabien und Iran ausdrückt. Zugleich hat Iran – eine Folge auch der westlichen Gewaltpolitik – in den vergangenen zwei Jahrzehnten erheblich an Einfluss gewonnen. Washington, schon mit dem Ukraine-Krieg ausgelastet, will einen Flächenbrand in der Region vermeiden, um sich vorrangig auf seinen Machtkampf gegen China zu fokussieren. In Berlin wird parallel aber auch eine stärkere militärische Unterstützung für Israel diskutiert – auch ein Einsatz der Bundeswehr.

Neue Spielräume

Die aktuellen diplomatischen Bemühungen im Nahen und Mittleren Osten werden zum einen dadurch geprägt, dass die Kräfteverhältnisse in der Region sich tiefgreifend zu verschieben begonnen haben. Ein Beispiel bietet etwa die Tatsache, dass es dank chinesischer Vermittlung gelungen ist, den erbitterten Konflikt zwischen Saudi-Arabien und Iran einzuhegen und die diplomatischen Beziehungen zwischen beiden Ländern wiederherzustellen. Auf dem jüngsten Gipfeltreffen des BRICS-Bündnisses wurde gar beschlossen, beide Länder gleichzeitig in den Zusammenschluss aufzunehmen.[1] Die Annäherung zwischen beiden Staaten, die US-Interessen in Mittelost zuwiderläuft – Washington will Teheran isolieren –, eröffnet ganz neue Handlungsspielräume. So kamen am 12. Oktober Irans Präsident Ebrahim Raisi und Saudi-Arabiens Kronprinz Muhammad bin Salman in ihrem ersten gemeinsamen Telefonat überhaupt überein, im aktuellen Konflikt auf „islamische Einheit“, also auf ein miteinander abgestimmtes Vorgehen zu setzen.[2] Als am 15. Oktober US-Außenminister Antony Blinken zu Gesprächen in Riad eintraf, ließ Muhammad bin Salman ihn einige Stunden lang warten und stach dies an die Öffentlichkeit durch – ein Schritt, den nichtwestliche Medien völlig offen als „Demütigung“ der Vereinigten Staaten einstuften.[3]

Irans Kräftedispositiv

Werden die USA dadurch im Mittleren Osten geschwächt, so ist Iran spürbar gestärkt aus der Entwicklung der vergangenen zwei Jahrzehnte hervorgegangen – paradoxerweise dank der Gewaltpolitik der westlichen Mächte in der Region. So haben der Irak-Krieg des Jahres 2003 und der Sturz von Saddam Hussein schiitische Kräfte im Irak freigesetzt, von denen einige Teheran nahe stehen; Iran kann nun bei Bedarf kampfstarke, ihm gegenüber loyale Milizen in seinem Nachbarland mobilisieren. Der 2011 initiierte Versuch des Westens, Syriens Präsident Bashar al Assad zu stürzen, hat es Teheran ermöglicht, als dessen Unterstützer aufzutreten und proiranische Milizen in Syrien zu positionieren. Dass Saudi-Arabien – damals noch loyal auf der Seite des Westens stehend – im Jemen gegen die Huthi-Milizen Krieg führte, hat auch diese Iran in die Arme getrieben, ähnlich wie die eineinhalb Jahrzehnte währende Blockade des Gazastreifens Bestrebungen in der sunnitischen Hamas stärkte, enger mit Teheran zu kooperieren. Gemeinsam mit der libanesischen Hizbollah bilden diese Kräfte ein in mehreren Staaten des Nahen und Mittleren Ostens verankertes Dispositiv, das wohl kaum iranischem Befehl direkt gehorcht, das aber für iranischen Einfluss sehr offen ist.

Mehrere Fronten

Die Vereinigten Staaten, jahrzehntelang im Nahen und Mittleren Osten dominant, sind damit in der Region verletzbar geworden. Während die internationale Aufmerksamkeit zur Zeit auf den Gazastreifen und die Scharmützel an der israelisch-libanesischen Grenze fokussiert ist, wo die Eskalation zu einer zweiten Kriegsfront zwischen Israel und der Hizbollah befürchtet wird, griffen mutmaßlich proiranische irakische Milizen am Mittwoch zwei US-Militärbasen im Westen und im Norden des Iraks mit Drohnen an; dabei wurde eine nicht genannte Zahl an US-Soldaten verletzt.[4] Am gestrigen Donnerstag folgten weitere Drohnenangriffe, diesmal auf die US-Militärbasis Al Tanf im Südosten sowie auf das Conoco-Erdgasfeld im Nordosten Syriens, das von den Vereinigten Staaten kontrolliert wird.[5] Im Irak sind noch rund 2.500, in Syrien rund 900 US-Soldaten stationiert. Am Montagabend hatte der iranische Außenminister Hossein Amir-Abdollahian erklärt: „In den kommenden Stunden können wir präemptive Handlungen der Widerstandsfront erwarten“. Mit „Widerstandsfront“ sind die erwähnten Iran gegenüber loyalen Milizen gemeint.[6]

„Nicht wie nach 9/11“

Zwar kann an der militärischen Überlegenheit der US-Streitkräfte kein Zweifel bestehen. Ein Flächenbrand in Nah- und Mittelost würde aber eine erhebliche Zahl an US-Truppen binden – dies zu einer Zeit, zu der in Washington die Forderung erstarkt, die Unterstützung für die Ukraine zu reduzieren, um sich vollständig auf den Machtkampf gegen China zu fokussieren. Die Vereinigten Staaten geraten damit immer stärker in einen Zielkonflikt: Lassen sie die Ukraine fallen, könnte Russland einen gewichtigen Sieg erzielen; müssen sie stärker in Israel und im Mittleren Osten intervenieren, fehlen erneut Kräfte für den Aufmarsch in der Asien-Pazifik-Region. US-Präsident Joe Biden versucht deshalb zur Zeit, Israel zu stärken, ohne einen ganz großen Krieg im gesamten Nahen und Mittleren Osten zu riskieren. Am Mittwoch drang er in einer Rede in Tel Aviv auf Mäßigung bei den Angriffen auf den Gazastreifen. So warnte er mit Bezug auf die hemmungslose US-Gewaltpolitik nach den Anschlägen vom 11. September 2001, dabei seien „Fehler“ gemacht worden; Tel Aviv solle sie nicht wiederholen. Man müsse berücksichtigen, dass die Palästinenser unter den derzeitigen Bombardements dramatisch litten; auch deshalb gelte es, schon jetzt auf Frieden zu orientieren. Biden erwähnte ausdrücklich die „Zweistaatenlösung“.[7]

Die Entdeckung der Palästinenser

Die Bundesregierung beginnt mittlerweile, ihre Nahostpolitik der US-Strategie anzupassen. Dies zeigen Aussagen, die Außenministerin Annalena Baerbock vor ihrer gestern gestarteten Nahostreise tätigte. Hatte sich Baerbock bislang – wie Berlin insgesamt – darauf beschränkt, „Israels Recht auf Selbstverteidigung“ zu postulieren, ohne es auch bloß um eine Warnung vor Kriegsverbrechen bei Blockade und Bombardement des Gazastreifens zu ergänzen [8], so schränkte sie gestern, konform mit Biden, erstmals ein, „unsere unverbrüchliche Solidarität“ gelte Israel nicht allgemein, sondern „im Kampf gegen die Hamas“ [9]. Israels „Recht, sich gegen den Hamas-Terror zu verteidigen“, gelte „in dem Rahmen, den das Völkerrecht“ dafür vorgebe. Hatte Baerbock bislang lediglich Tränen für israelische Kinder vergossen, die dem Massaker vom 7. Oktober zum Opfer gefallen waren, so stellte sie am gestrigen Mittwoch zum ersten Mal öffentlich fest, auch im Gazastreifen seien „unglaublich viele Kinder … ums Leben gekommen“. Den Kurswechsel auf die aktuelle US-Linie bekräftigte Baerbock mit dem Hinweis, sie wolle „den Palästinenserinnen und Palästinensern deutlich … machen, dass wir auch ihr Leid sehen“. Lediglich den Biden’schen Hinweis auf die Zweistaatenlösung verkniff sich die deutsche Außenministerin noch.

Bundeswehr nach Israel?

Freilich ist zweifelhaft, ob der US-Versuch gelingt, das Ausgreifen des Krieges zu einem Flächenbrand zu verhindern. Am gestrigen Donnerstag hieß es, Israels Verteidigungsminister Joav Gallant stimme die Streitkräfte auf den baldigen Beginn der Bodenoffensive ein.[10] Für den Fall, dass der Krieg dann eskaliert, wird in Berlin eine Ausweitung der militärischen Unterstützung für Israel diskutiert. Wie der CDU-Außenpolitiker Roderich Kiesewetter am Mittwochabend erklärte, könne dazu unter Umständen auch die Bundeswehr nach Israel entsandt werden. So könne man beispielsweise ein deutsches Kriegsschiff vor der Küste von Gaza patrouillieren lassen oder deutsche Militärjets schicken, um „die Grenzen Israels abzufliegen“.[11] Davon unabhängig halten sich, wie gestern bekannt wurde, Spezialkräfte der Bundeswehr bereits auf Zypern auf – wie es heißt, zunächst mit dem Ziel, im Fall einer Kriegseskalation deutsche Staatsbürger evakuieren zu können.[12]

 

Mehr zum Thema: Waffen für Israel und Vor der humanitären Katastrophe.

 

[1] S. dazu Das Ende der US-Dominanz am Persischen Golf (III) und Strategien gegen die BRICS.

[2] Raisi, bin Salman discuss Palestine developments over phone. en.irna.ir 12.10.2023.

[3] Saudi Crown Prince ‘Humiliates’ Blinken Over Israel; ‘MBS Kept U.S. Diplomat Waiting…’ Youtube-Kanal der Hindustan Times, 16.10.2023.

[4] Drones target US troops in Middle East for second day in a row. stripes.com 19.10.2023.

[5] Lara Seligman: U.S. forces thwart drone strikes headed for bases in Syria. politico.com 19.10.2023.

[6] Friederike Böge: Schärfere Töne. Frankfurter Allgemeine Zeitung 18.10.2023.

[7] Remarks by President Biden on the October 7th Terrorist Attacks and the Resilience of the State of Israel and its People. Tel Aviv, 18.10.2023.

[8] S. dazu Kein Waffenstillstand.

[9] Außenministerin Baerbock vor ihrer erneuten Nahost-Reise. Pressemitteilung des Auswärtigen Amts. Berlin, 19.10.2023.

[10] Galant: Truppen werden Gaza „bald von innen sehen“. tagesschau.de 19.10.2023.

[11] Pierre Winkler: Israel: Kiesewetter kritisiert Islamverbände. zdf.de 19.10.2023.

[12] Julia Klaus: Deutsche Spezialkräfte auf Zypern stationiert. zdf.de 19.10.2023.

Der Originalartikel kann hier besucht werden