Die USA schossen vier Ballone ab und liessen den Verdacht stehen, dass China tatsächlich spioniert habe – bis kürzlich.
Urs P. Gasche für die Online-Zeitung INFOsperber
Am 16. September teilte US-Generalstabchef Mark Milley mit, dass der chinesische Ballon, der sich nach Alaska verirrte und dann über die USA flog, «nach hochgradig zuverlässiger Einschätzung keine nachrichtendienstlichen Informationen sammelte und nach China weiterleitete». Vermutlich hätten starke Winde den Ballon von seiner Route abgebracht.
Die USA liessen durchblicken, dass der chinesische Ballon Sensoren für eine Datensammlung installiert hatte. Trotz Abschuss und Rettung aus dem Meer legten sie jedoch keinen Beweis dafür vor.
Über den jetzt klaren Befund des amerikanischen Generalstabschefs haben seit dem 16. September weder die Tagesschau noch grosse Medien informiert. Das ist erstaunlich: Laut Mediendatenbank SMD waren im Februar in der Schweiz gedruckt und online über tausend Artikel über Mutmassungen und Behauptungen zum chinesischen Spionageballon erschienen. SRF berichtete sieben Mal darüber.
Bereits Ende Juni hatte der Pressesprecher des Pentagons, Brigadegeneral Pat Ryder, erklärt, es sei «jetzt unsere Einschätzung, dass der Ballon keine Nachrichten sammelte, während er die Vereinigten Staaten überquerte». Über diese Aussage informierten NZZ und «20Minuten» gemäss SMD lediglich online mit einer Agenturmeldung, jedoch nicht in ihren gedruckten Ausgaben. Die Tamedia-Zeitungen wie «Tages-Anzeiger» oder «Bund» sowie SRF informierten überhaupt nicht darüber.
Die USA benutzten den Ballon offensichtlich zur Stimmungsmache in ihrem Informationskrieg gegen den deklarierten «Feind Nummer 1». US-Aussenminister Antony Blinken sagte im Februar «aus Protest» eine geplante Reise nach Beijing ab, was wiederum für Schlagzeilen sorgte.
Es lohnt sich, einige Medienberichte in Erinnerung zu rufen.
«Typisches Verhalten der Chinesen, das die NATO-Mitglieder bedroht»
Schlagzeile von «Foreign Policy»
Fox-News: «Möglicherweise bereitet Beijing das Schlachtfeld vor»
Ausschnitte aus grossen Schweizer Zeitungen
«Tages-Anzeiger» und andere Tamedia-Zeitungen am 6. Februar 2023:
«Peking fühlt sich ertappt – USA schiessen Spionageballon ab
Chinas Regierung ist von den heftigen Reaktionen auf den Ballonüberflug in den USA offenbar überrascht worden. Nach Jahren der Isolation scheint Pekings Blick auf die Weltlage nicht mehr klar zu sein […] Ein mehrere Schulbusse grosser weisser Ballon mit chinesischen Worten darauf gedruckt, unmittelbar im Herzen des Landes – plastischer könnte die gefühlte China-Bedrohung für Amerikaner kaum werden […] Peking schien davon überrascht zu sein, wie heftig die Reaktionen auf den Ballon und die mutmasslichen Spionageversuche ausfielen.»
NZZ am 10. Februar 2023:
«Pekings Ballone spionieren weltweit. Das vor der Küste der USA abgeschossene Objekt soll Teil eines globalen Überwachungsprogramms sein
Nach dem Abschuss eines chinesischen Stratosphären-Ballons über amerikanischen Küstengewässern am Samstag werden stetig mehr Einzelheiten über die Hintergründe bekannt. Die USA sind überzeugt, dass […] China ein weltweites Überwachungsprogramm betreibt. Der Ballon sei mit Antennen und Sensoren ausgerüstet gewesen, um elektronische Kommunikationssignale und Datenströme zu sammeln.»
«Tages-Anzeiger» und andere Tamedia-Zeitungen am 11. Februar 2023:
«Spionageballons: USA brieften die Schweiz und informierten rund 40 Länder über chinesische Überwachung
Wendy Sherman, die Nummer 2 im US-Aussenministerium, hat am Montag rund 40 Länder über die chinesische Ballonspionage gebrieft. Informiert wurde auch die Schweiz, wie diese Redaktion in Erfahrung bringen konnte. Details zum Inhalt des Gesprächs bleiben unter Verschluss […]
Der vor der US-Ostküste abgeschossene Spionageballon sei Teil eines globalen chinesischen Überwachungsprogramms gewesen. Das sagt das US-Aussendepartement, das zuletzt neue Details bekannt gegeben hat. Nach US-Angaben ist der Ballon nicht nur zur Radar- und Videoüberwachung fähig, er hat auch über mehrere Antennen verfügt. Mit diesen hätten die Chinesen Kommunikation am Boden abhören und lokalisieren können, heisst es aus Washington.»
NZZ am 23. Februar 2023:
«Interview von Patrick Zoll mit ‹amerikanischer China-Expertin Bonnie Glaser›
FRAGE: Als die Geschichte des Spionageballons hochkochte, versuchten amerikanische Militärs ihre Gegenüber in China zu kontaktieren. Doch die antworteten nicht. Ist das nicht bedenklich?
GLASER: Das war zu erwarten. Wenn sie den Anruf entgegengenommen hätten, wäre das ein implizites Zugeständnis gewesen, dass der Ballon militärischer Natur ist. Das ging natürlich nicht, weil Pekings offizielle Linie war, dass es ein ziviler Ballon ist. Aus chinesischer Sicht war es unangemessen, dass wir mit ihrem Militär über den Ballon sprechen wollten.
FRAGE: Aber war das ganze Theater der USA mit dem Ballon nicht etwas übertrieben?
GLASER: Mittlerweile gehen wir davon aus, dass der Ballon wohl aus Versehen über das amerikanische Festland geflogen ist. Das gab Washington die Möglichkeit, zu zeigen, dass die Chinesen internationales Recht verletzen. Und dies schöpft es nun bis zum Letzten aus […] Wir befinden uns in einem Ringen um das globale Narrativ.»