Vom Ende der Unidad Popular erfährt die Guerillera Celeste Zerpa am Morgen des 11. September 1973 aus dem Radio. Die Unidad Popular, dieser sozialistische Kuschelkurs aus Chile, diese kleinbürgerliche Revolution an der Wahlurne – darüber hatten viele ihrer Weggefährt*innen aus Uruguay drei Jahre zuvor noch geschmunzelt. Die Nationale Befreiungsbewegung (MLN), der auch Celeste angehört, heute besser bekannt als Tupamaros, setzte seit Ende der 1960er Jahre konsequent auf den bewaffneten Kampf. Doch statt ein „zweites Kuba“ zu schaffen, müssen die Tupamaros 1972 ihre militärische Niederlage eingestehen; es folgt die geordnete Flucht nach Chile. Und nun lauschen Celeste und einige weitere Bewohner*innen eines unscheinbaren Stadthauses in Santiago wie versteinert dem Kurzwellensender Radio Magallanes, wo Chiles gewählter Präsident Salvador Allende gerade ankündigt, er werde seine demokratische Loyalität mit dem Leben bezahlen. Dann warnt er vor „düsteren und bitteren Augenblicken, in denen sich der Verrat durchsetzt.“ Ein solches Szenario kennt Celeste zur Genüge, auch wenn es in Uruguay damals viel langsamer heraufzog…
Radikale Schritte für den Wandel
Es ist 1960. Die junge Lehrerin Celeste Zerpa träumt von einem anderen Uruguay. In diesen Jahren dient das Land als Bühne für den Abschluss der berühmten US-Initiative „Allianz für den Fortschritt“. 1961 kommt im Badeort Punta del Este ein Großteil der Präsidenten Lateinamerikas zusammen und verpflichtet sich zu sozialen Reformen. Celeste setzt keine großen Hoffnungen in das Treffen der Krawattenträger. Ihre Referenzen sind andere: Rosa Luxemburg und die kubanische Revolution. Celeste ist sich sicher, für einen Wandel braucht es radikale Schritte. Bald schließt sie sich einer gerade entstehenden Guerillabewegung an. Zu dieser Zeit hat sie bereits drei kleine Töchter und eine eigene Wohnung, „die nützlich war, wenn ich andere Genossen schützen musste, die bereits in den Untergrund gingen.“ Für sie sei das damals keine Frage von Leben und Tod gewesen. „Niemand sah, wie sich am Horizont die Tragödie abzeichnete: Gefängnis, Tod, schreckliche, noch zu treffende Entscheidungen. Ich spürte nur diesen großen Drang mitzumachen, damit aus diesem Land ein besseres Land würde.“ Dafür setzen die Tupamaros ab 1968 auch auf bewaffnete Aktionen, was die Repression der Regierung gegen Arbeiter*innen und Gewerkschaften noch verstärkt. Die letzte Chance, diesem Klima wachsender Konfrontationen zu entgehen, scheinen die Präsidentschaftswahlen im Jahr 1971 – doch die linke Einheitsfront unterliegt. Das politische Klima verschlechtert sich rapide und gipfelt 1972 in einem Staatsstreich.
„Rettet euch, so gut ihr könnt!“
Noch im selben Jahr wird Celestes Partner getötet, andere Kamerad*innen und Freund*innen „verschwinden“ einfach – „für uns war es anfangs sehr schwer zu verstehen, was da überhaupt geschah.“ Auch Celeste wird verraten, aber gewarnt. Es bleibt keine Zeit, ihre inzwischen vier Kinder mitzunehmen, mit dem Boot gelangt sie ins sichere Buenos Aires. Von hier aus nimmt sie das Flugzeug nach Chile. „Wie kleine Ameisen überquerten wir die Anden, auf der Suche nach Orientierung.“ Bald findet sie zu den Tupamaros zurück, die sich in Chile gemeinsam mit anderen revolutionären Gruppen wie dem Ejercito Revolucionario (ER) aus Argentinien und Vertreter*innen der Nationalen Befreiungsarmee (ELN) Boliviens neu formieren. Offiziell sind alle Studierende und erfüllen dabei diskret Aufgaben für ihre jeweilige Organisation. Fast stellt sich so etwas wie Alltag ein. Celeste gelingt es, ihren kleinen Sohn zu sich nach Chile zu holen. Für die Tupamaros übernimmt sie eine ungefährliche, aber wichtige Aufgabe: die Herstellung strategischer Lederwaren. Versteckt im zweiten Stock eines Ladens, in dem Ponchos und Decken aus Chiloé verkauft werden, sitzt sie fast täglich an einer Ledernähmaschine und fertigt Aktentaschen mit Geheimfächern für „Genossen, die auf Reisen gingen. „Wir wussten, dass die Mappen sicher sein mussten, dass unsere Genossen nicht auffliegen durften. Wir gaben alles, um perfekt zu sein.“ Die Tarnung des Stadthauses scheint dagegen weniger perfekt. Auch Celeste hat Bedenken, zudem das putschende Militär noch am 11. September Radiospots schaltet, in denen es die Bevölkerung auffordert, alle verdächtigen Ausländer*innen sofort zu melden. Eines Tages spricht sie auf dem Heimweg eine unbekannte Chilenin an und warnt sie vor einer Militärwache, die vor ihrer Tür lauere. Mit ihrem Sohn findet Celeste Zuflucht in einer anderen geheimen Werkstatt der Tupamaros. Zusammen mit ihren Kamerad*innen warten sie auf Nachrichten, auf eine Art Ausstiegsplan. Doch die chilenischen Bewegung der Revolutionären Linken (MIR) und andere revolutionäre Gruppen sind nicht mehr in der Lage, Hilfe zu organisieren. Der Befehl lautet: „Rettet euch, so gut ihr könnt“.
Flucht nach Schweden
Tagelang läuft sie durch Santiago, sucht immer neue Schlafplätze, wartet auf ein Zeichen. „Und irgendwann kommt ein Genosse vorbei sagt ‚Bólivar 487‘ und läuft weiter. Das ist alles, was er mir sagte.“ Im Gebäude in der Calle Bolívar 487 betreiben internationale Institutionen und Einzelpersonen wie der Deutsche Helmut Frenz und die Uruguayerin Belela Herrera in diesen Tagen eine Notunterkunft. Unter Einsatz all‘ ihres sozialen Kapitals gelingt es ihnen, viele Verfolgte eine Zeitlang zu schützen und nach Fluchtrouten zu suchen. Der schwedische Botschafter Harald Edelstam verschafft einem großen Kontingent Tupamaros schließlich politisches Asyl in Schweden. In Stockholm wird Celeste mit zwei ihrer Töchter wiedervereint. Sie bekommt einen Job als Lehrerin, schließt neue Freundschaften mit Leuten aus den schwedischen Solidaritätsbrigaden und anderen Geflüchteten. Doch plötzlich ändert ein Treffen zwischen dem kubanischen Präsidenten und einem der inhaftierten Tupamaros-Anführer ihren Kurs erneut. Fidel Castro und Raúl Sendic treffen im Gefängnis eine Vereinbarung „und es kam der Befehl, dass alle Uruguayer, die nach Kuba gehen wollten, Schweden verlassen könnten.“ Eine schwierige Entscheidung. Celestes Familie spricht inzwischen Schwedisch, hat eine Wohnung und eine Aufenthaltsgenehmigung. „Und doch wollte ich unbedingt in Amerika sein, so nah wie möglich an Amerika, ich wollte nicht in Schweden bleiben, und bis heute denke ich, es war eine großartige Entscheidung.“
„Was dich berührt, das sollst du auch leben.“
Celeste bleibt für zwölf Jahre in Kuba. Schließlich gelingt es dort, alle ihre Kinder wieder zu vereinen, ein weiteres wird in Havanna geboren. Heute lebt die Familie in Uruguay. Celeste unterstützt das linke Bündnis Frente Amplio und arbeitet mit Obdachlosen. Noch immer träumt sie von einem anderen Uruguay und einem anderen Amerika. „Wäre ich keine Tupamaro geworden, wäre ich nicht verfolgt worden, und es wäre mir sicher nie in den Sinn gekommen, die Anden zu überqueren. Ich hätte nie Freundschaften in Chile geschlossen. Die Umstände sind prägend, und entweder du nimmt sie an oder du ziehst dich zurück. Was dich berührt, das solltest du auch leben. Die Hingabe eines jeden zählt. Die Arbeit von einem Arzt ohne Grenzen, die hat den gleichen Wert wie die eines Lehrers, der sein Herz nicht für den Botanikunterricht gibt, sondern dafür, dass seine Schüler die Natur lieben. Es sind solche Absichten, die die Menschheit stärken, die Zeit wird es zeigen.“