Interview: Ein Krankenpfleger erklärt, warum er keine Lust mehr hat

Daniel Steinbauer*, ausgebildeter Krankenpfleger, 33 Jahre, kennt die Pflegesituation in- und auswendig. Er liebt die Arbeit mit Menschen und hilft gerne Menschen in Not. Er hat mit Leidenschaft in Krankenhäusern, im Hospitz, auf der Intensiv und in einer Ayurvedaklinik gearbeitet. Doch obwohl er sich quasi seinen Arbeitgeber aussuchen kann, ist er jetzt ausgestiegen. Warum?

Hallo Daniel. Alle Welt spricht davon, wie schlecht Pflegekräfte bezahlt werden, aber du beklagst dich gar nicht?

Das hängt vom Vergleichsmaßstab ab. In Bezug zur Verantwortung wird man schlecht bezahlt. Ein Chefarzt bekommt das Fünffache, hat aber nur einen Bruchteil der Verantwortung im Krankenhaus-Alltag. Umgekehrt: Als Festangestellter im Krankenhaus bekomme ich als Alleinstehender 2.800 Euro auf die Hand. Davon kann ich gut leben. Die Bezahlung ist eigentlich nicht das Thema. Krankenhäuser haben ein enggestecktes Budget. Wegen des Fallpauschalengesetzes spielt nur die Diagnose eine Rolle, nicht der tatsächliche Aufwand mit dem Patienten. Würden sie mir mehr bezahlen, müsste das Geld anderswo eingespart werden: weniger Personal, weniger Physiotherapie, weniger Ergotherapie etc.

Wie erklärst du dir die so häufige Klage über die schlechte Bezahlung?

Die Leute suchen einfach nach einem Grund für das Schlamassel. Die monetäre Zuwendung ist der einzige Strohhalm, bei dem man das Gefühl hat, damit mehr Ansprüche durchsetzen zu können. Was Verdi fordert, ist eigentlich Inflationsausgleich der letzten Jahre. Aber die Gewerkschaft drückt sich mit so einer Forderung vor dem Grundsätzlichen, nämlich der Tatsache, dass das gesamt öffentliche Gesundheitssystem umgebaut werden müsste. Der Schrei nach mehr Geld heißt eigentlich: „Mehr Personal!“ Das gibt es aber nicht.

Du warst rund zehn Jahre in dieser Mühle. Das muss dir also auch was gegeben haben?

Heute frage ich mich, wieso ich es so lange ausgehalten habe. Aber ist schon klar: Viele Menschen in der Pflege tun das aus demselben Grund wie ich: Sie suchen nach einer sinnstiftenden Arbeit. Fabrik wäre für mich unmöglich in Frage gekommen. Die Frage nach dem Sinn stellst du dir im Krankenhaus nicht. Die Dinge dort sind meistens lebensnotwendig. Wären wir nicht, hätten Patienten nichts zu essen, hätten keinen Trost, würden in ihren Exkrementen liegen, hätten eitrige Wunden etc. Ich bin so lange nicht ausgestiegen, weil es einen Unterschied gemacht hat, ob ich da war oder nicht. Die Dankbarkeit der Patienten war das Einzige, das mich wirklich bei der Stange gehalten hat.

So viel Sinnerfahrung gibt es ja wohl nur in wenigen Berufen?

Das stimmt schon. Aber je länger du drin bist, desto mehr fallen dir die Unsinnigkeiten auf. Beispiel: Würde sich eine Pflegekraft in einer Schicht so oft und vorschriftsgemäß die Hände desinfizieren, wie eigentlich nötig, wäre sie damit zweieinhalb Stunden beschäftigt. Jeden Tag musst du acht Stunden lang improvisieren. Allen Patienten gerecht zu werden, schafft man nicht. Und wenn man lange genug dabei ist, bemerkt man schleichend, dass genau das gar nicht erklärtes Ziel ist. Der Betrieb muss laufen, die Zufriedenheit von Personal und Patienten taucht in der Gleichung überhaupt nicht auf.

Es wird immer wieder behauptet, wir hätten eines der besten Gesundheitssysteme der Welt!

Wir haben ein extrem teures und ineffizientes Gesundheitssystem. In Frankreich werden die Patienten genauso sinnvoll versorgt, aber mit viel weniger Aufwand. Bei uns wird viel Geld verschwendet, was an anderer Stelle besser aufgehoben wäre. Jeder Patient bekommt z.B. anfangs Blut abgenommen, ganz egal, ob das vorher schon durch den Rettungsdienst geschehen ist oder ob es aktuelle Blutwerte von einem anderen Krankenhaus gibt. Wenn man an gewisse Daten nicht sofort rankommt, werden Untersuchungen oftmals doppelt vorgenommen. Viele kleinere Eingriffe wie Magen- und Darmspiegelungen werden gemacht, obwohl sie nicht dringend notwendig wären, sondern weil sie in den Behandlungs-Leitlinien der jeweiligen Fachgesellschaften empfohlen werden und diese Empfehlungen darüber entscheiden, ob ein Arzt rechtlich zu belangen ist, sollte der Patient Schaden nehmen. Es geht daher nur um eine Absicherung des Behandelnden, nicht um die Behandlung des Patienten.

Ähnliches gibt es beim Schlaganfall. Leichte bzw. vorübergehende Schlaganfälle werden so gut wie gleichbehandelt: Computertomographie, Magnetresonanztherapie und Herzultraschalluntersuchung, bei der eine Sonde über die Speiseröhre eingeführt wird, damit man das Herz von der Rückseite anschauen kann. Außerdem Blutdruckeinstellung, Thrombozytenaggregationshemmer und Cholesterinsenker. Patienten, die die empfohlenden Medikamente nicht einnehmen möchten oder kritisch nachfragen, werden oft überredet, teils mit unrealistischen Horrorszenarien und emotionalen Argumenten.

Dazu muss man wissen, dass die Symptome eines leichten, unblutigen Schlaganfalls oft schon nach einigen Stunden verschwunden sind und der Patient vollkommen beschwerdefrei ist. Will er dann gehen, wird er oft bekniet zu bleiben, natürlich mit Verweis auf das statistisch erhöhte Risiko eines erneuten Infarktes. Ein „Schlaganfall-Patient“, der keine Arbeit macht, aber drei Tage lang abgerechnet werden kann, ist natürlich ein hervorragender finanzieller Anreiz, den Patienten länger im Krankenhaus zu behalten.

Aber müssen die Patienten nicht grundsätzlich einwilligen?

Theoretisch ja. Doch mit der richtigen Gesprächsführung und emotionalen Argumenten („Sie wollen doch für ihre Familie weiterleben“) überzeugen die Ärzte (bei resistenten Patienten wird dann auch gerne mal der Ober- oder Chefarzt dazu gerufen) eigentlich jeden Patienten. Hauptsache ist, der Patient übernimmt mit seiner Unterschrift alle erdenklichen Risiken der Behandlung. Tatsächlich wird aber nicht richtig aufgeklärt, dafür ist gar keine Zeit. Die Vorteile werden herausgestellt, die Risiken in der Regel heruntergespielt. Da heißt es dann: „Hier steht jetzt ganz viel, lesen sie sich das durch, aber natürlich gibt es immer Risiken.“ Das klingt dann alles ganz harmlos. Langzeitfolgen wie Narben, innere Verwachsungen sowie Gefahren durch regelmäßige Einnahme von Pharmaka werden in aller Regel nicht thematisiert – man möchte den Patienten ja nicht verunsichern. Genau diese Langzeitfolgen bringen die Patienten dann ganz oft wieder zurück ins Krankenhaus. Natürlich spielen gerade bei chronischen Erkrankungen auch Lebensumstände und -gewohnheiten eine große Rolle. Doch auch das findet im Krankenhaus-Alltag keinen Raum. Die Therapie begrenzt sich auf Risikobegrenzung, medikamentöse Therapie und akute sowie elektive [zeitlich variable] Eingriffe. Patientenedukation [pädagogische/psychologische Maßnahmen zur Verbesserung des Gesundheitszustandes und des Kohärenzgefühls] findet, wenn überhaupt, durch die völlig überlastete Pflege statt.

Formell ist aber der Patientenwille gewahrt?

Jein. Natürlich werden wache und orientierte Patienten über die Eingriffe und Untersuchungen aufgeklärt, zumindest oberflächlich. Doch gerade im Bereich der Intensiv- und Notfallmedizin wird oft mit sogenannten „Notfallindikationen“ gearbeitet, für die keine Einwilligung des Patienten notwendig ist. Dabei geht man davon aus, dass er es gewollt hätte, wenn man ihn gefragt hätte. Häufig werden auch Angehörige dazu befragt, die natürlich durch richtige Gesprächsführung und emotionale Argumente leicht in die gewünschte Richtung zu bringen sind.

Typisch dafür sind die Schlaganfallbehandlungen. Weil die sogenannte Schlaganfall-Komplexbehandlung von den KK großzügig finanziell vergütet wird, wird da jeder Patient durchgeschleust, unabhängig davon, wie schwer der Schlaganfall war. Offizielle Begründung: Man muss die Risikofaktoren besser einschätzen können. Und natürlich sind Patienten und Angehörige schnell auf „Linie“ gebracht, wenn ihnen das schnelle und plötzliche Ableben an die Wand gemalt wird, was natürlich durch die Untersuchung abgewendet wird. Aber eine Untersuchung wie die Herz-Echographie braucht nun mal nicht jeder.

Aber selbst, wenn die Patientin gefragt wird: Ich habe einen Fall erlebt, wo eine Patientin partout eine Behandlung nicht wollte, sie war schon sehr betagt, bereits bettlägerig und hatte während den Wochen bei uns oft fehlenden Lebenswillen bekundet. Aber auch diese Patientin wurde solange bequatscht, bis sie schließlich einwilligte – und dann doch zwei Tage später ihrer Grunderkrankung erlag.

Und wie ist es mit der Patientenverfügung? Ist die ganz überflüssig?

Nein, so kann man das nicht sagen. Das Problem ist, dass die meisten Patientenverfügungen so vage formuliert sind, dass sie in der Praxis beliebig interpretierbar sind. Gerade der bekannte Passus „im Falle, dass meine Gehirnfunktion unwiederbringlich geschädigt ist …“ ist ein gutes Beispiel dafür. Wird ein Bett benötigt, kann man die Behandlung schnell beenden, will man die Behandlung fortführen, ist das auch ohne Weiteres möglich.

Das Wichtigste ist aus meiner Erfahrung, dass sich die Familien untereinander einig sind, wie vorzugehen ist. Bemerken die behandelnden Ärzte Unstimmigkeiten innerhalb der Familie, kann man davon ausgehen, dass eher mehr als weniger getan wird, auch wenn der Nutzen der Untersuchungen oder Behandlungen sehr zweifelhaft ist. Gerade die frisch gebackenen Assistenzärzte werden aus meiner Sicht nicht genügend auf die Tatsache vorbereitet, dass man nicht jeden Patienten retten kann und bekommen auch nicht die Fertigkeiten an die Hand, um auch abseits der Behandlungsleitlinien Therapieentscheidungen zu treffen.

Das klingt nicht gerade nach einem Gesund-Mach-System

Ist es definitiv nicht. Die Behandlungen sind mittlerweile stark standardisiert und nicht individuell auf die Bedürfnisse und Wünsche des Patienten abgestimmt. Mittlerweile bin ich zu der Erkenntnis gekommen: Ich wurde gar nicht dazu eingestellt, dem Patienten zu helfen – auch die Ärzte übrigens nicht. Es geht darum, den Patientenstrom zu managen: Untersuchungen und elektive Eingriffe haben immer oberste Priorität, danach die medikamentöse Therapie. Außerdem müssen Neuaufnahmen und Entlassungen organisiert werden. Dazu der immer größere Aufwand bei der Dokumentation. Das führt nicht selten dazu, dass die Dinge, die für unsere Patienten wichtig wären, hintangestellt werden: Körperpflege, Mobilisation und emotionale Begleitung der Patienten in diesen absoluten Ausnahmesituationen. Die Finanzierung ist durch die Politik der Fallpauschalen gedeckelt und ist natürlich ein Anreiz, den Patienten so schnell wie möglich wieder zu entlassen – ob der gleiche Patient am Nachmittag wegen Komplikationen wieder über die Notaufnahme ins Krankenhaus kommt, wird in Kauf genommen. Schließlich ist das dann ein neuer Fall, der bei der Krankenkasse wieder abgerechnet werden kann.

Ist es also dieser Zynismus des „Systems Krankenhaus“ dem Menschen gegenüber, der dich zu deinem Schritt veranlasst hat?

Der Mensch wird im Krankenhaus zum Patienten, also letztlich zur Ware. Er verliert damit einige grundlegende Rechte: Selbstbestimmung und würdevoller Umgang sind im Kontext Krankenhaus eher Sand im Getriebe und werden oft schon durch den Behandlungsvertrag im Krankenhaus beschnitten. Die Umstände haben mir krass vor Augen geführt, wie wenig der Mensch dort gilt. Der Patient bekommt nicht das für ihn Beste, sondern es ist immer eine Abwägung: Lohnt sich diese Maßnahme im Vergleich zu etwas anderem, was auch erledigt werden muss? Oft sind es auch einfach Kleinigkeiten, die im Trubel des Stationsalltages untergehen: Da bekommt ein Patient mit einem Schlaganfall die ersten drei Tage keine Physiotherapie – es wurde schlicht vergessen, eine Anmeldung ins Netz zu stellen. Doch gerade die ersten Tage sind extrem wichtig und für den Patienten nicht wieder aufzuholen. Da kann ich mich ein paar Tage hundertprozentig um einen Patienten gekümmert haben, und wenn ich drei Tage später zum Dienst komme, wurde das einfach nicht weitergemacht. Andre Priorität oder ein Kollege, der schlicht Dienst nach Vorschrift macht. Das verursacht Frust.

Was du erzählst, klingt, als ob die Patienten gar kein Mitspracherecht hätten?

Doch, haben sie, auf dem Papier. Aber ein Krankenhaus ist ja auch ein soziales System, und zwar ein hierarchisches. Ganz oben steht der Chefarzt, danach kommen die Oberärzte, dann die Assistenzärzte, die versuchen, möglichst schnell in der Hierarchieleiter aufzusteigen. Das Arbeitspensum für die sehr unerfahrenen Ärzte in Facharztausbildung ist enorm, unvergütete Überstunden die Regel und emotionale Verbundenheit mit dem Patienten leider sehr selten. An unterster Stufe stehen die Patienten, die nicht in die Eigenverantwortung geführt werden, sondern Leitlinienbehandlung über sich ergehen lassen müssen. Was sie leider in der Haltung bestärkt: „Die müssen mich gesund machen.“

Hier zum Teil 2 des Interviews

*Name anonymisiert aus naheliegenden Gründen