Damoklesschwerter über Kiew, Taiwan und Lateinamerika! – in seinem Pressenza-Beitrag vom 12.09.2023 trifft Günter Buhlke zwei Kernaussagen.
Replik von Ulrich Weiß
Erstens: „Aus seinen inneren Gesetzmäßigkeiten heraus ist das kapitalistische System … nicht in der Lage“, der „Welt eine friedliche und sozial-verpflichtende Zukunft“ zu sichern.
Zweitens: „In der Ukraine tobt aktuell eine Schlacht der Systeme zwischen Kapitalismus und Sozialismus.“
Auf Seiten des Kapitalismus verortet er die NATO und die USA und auf der des Sozialismus China, die BRICS-Länder und die CELAC, die Gemeinschaft der Lateinamerikanischen und Karibischen Staaten. Im Falle der russischen Oligarchen ist er sich nicht sicher.
Der ersten Aussage ist unbedingt zuzustimmen. Kommt die Menschheit nicht über den Kapitalismus hinaus, kann die Selbstbezeichnung „Letzte Generation“ tatsächlich wahr werden.
Aber gerade weil die globale Suche nach Wegen aus dem Kapitalismus so existenziell ist, muss der zweiten Aussage entschieden widersprochen werden. Wenn man unter Sozialismus einen aufgehobenen Kapitalismus versteht, dann kämpfen in der Ukraine gerade nicht Sozialismus und Kapitalismus miteinander.
Dabei kann Buhlkes vorausgesetzter Annahme, dass hier auch ein Stellvertreterkrieg geführt wird, in dem sich auf globaler Ebene große Mächte entgegenstehen, durchaus zugestimmt werden. Es handelt sich hierbei aber um einen Kampf um globale Hegemonie zwischen kapitalistischen Global Playern. Es geht um die Verteidigung der bestehenden amerikanisch-westlichen Vorherrschaft bzw. um die Neuaufteilung einer durchgängig kapitalistischen Welt.
In dieser Auseinandersetzung sind verschiedene Herrschaftsformen, doch nirgendwo auch nur ein Gran Sozialismus zu finden. Auch das nach Buhlke angeblich sozialistische China mit dem weltweit zweithöchsten Anteil an Milliardären und extremen sozialen Unterschieden ist wie der Westen dem Zwang zu „Rendite- und Wachstum“, zum „extensiven Konsum der Bevölkerung“, zur Vermüllung der „Meere und Landschaften“ unterworfen. Es sind eben die „inneren Gesetzmäßigkeiten“ der kapitalistischen Warenproduktion, die den ansonsten unterschiedlichen Gesellschaften und Staaten ihre Logik aufzwingen.
Auf dem Niveau des nicht wieder rückgängig machbaren globalisierten Hightech-Kapitalismus heißt das für Global Player, dass sie all ihre verfügbaren Mittel – die militärischen eingeschlossen – einsetzen müssen, um die Hegemonie zu behalten, zu erreichen oder wenigstens die Souveränität halbwegs zu bewahren. Es kann in dieser Auseinandersetzung keine Guten geben und letztlich auch keinen Sieger. Ein global über alle Konkurrenten herrschender Hightech-Global-Player zerstört nicht nur die inneren (Wert-) Quellen des kapitalistischen Reichtums, die lebendige Arbeit. Er findet für seine Waren letztlich auch keine zahlungskräftigen Konsumenten mehr. Der „Sieger“ stürbe schon aus rein ökonomischen Gründen als Zweiter.
Es ist fraglich, ob es vor diesem katastrophalen spätkapitalistischen Endspiel – dies die eigentliche Substanz der sogenannten Zeitenwende – noch einmal zu einer relativ stabilen friedlichen Koexistenz kommen kann. Für die Menschen der hiesigen westlichen Gesellschaften kann es jedenfalls unmittelbar nur darum gehen, den „Hauptfeind im eigenen Land“ (Liebknecht 1915) oder Lager zu bekämpfen, den Militarismus, der in der Bundesrepublik und der EU viel mehr als ohnehin schon die „Sprache der Macht lernen [und] eigene Muskeln aufbauen“ müsse (von der Leyen 2019).
Buhlke tappt in eine Falle extrem verkürzter Kapitalismuskritik, wenn er die mit dem „eigenen“ Kapitalismus konkurrierenden Staaten und Gesellschaften zu Zukunftsprojekten, zu sozialistischen gar, hochjubelt.
Letztlich kann das Agieren gegen die militärische und ökologische Selbstvernichtung nur erfolgreich sein, wenn es mit der Suche nach wirklichen Wegen aus dem Kapitalismus verbunden ist. Das bedeutet das zu verwirklichen, was bisher wegen unzureichender sachlicher und menschlicher Voraussetzungen dafür noch nirgends gelang, nicht im Real-„Sozialismus“ mit dem Staatseigentum an Produktionsmitteln, nicht in China oder sonst wo: die Aufhebung der (unvermeidbar kapitalistischen) Warenproduktion und der Lohnarbeit. Hier, in China und sonst wo.
Die von R. Luxemburg vorzeitig konstatierte Alternative – ein solcher „Sozialismus oder Barbarei“ – wird immer wahrer.