Fünf Millionen Menschen, die in einem selbstverwalteten Autonomiegebiet leben, in einer multikulturellen Gesellschaft mit einer demokratisch gewählten Verwaltung und einem eigenen Gesellschaftsvertrag – und das mitten in einem kriegserschütterten Land: Das klingt wie eine Utopie. Doch im kurdischen Rojava ist es Realität.

Im Juli hat sich die Unterzeichnung des Lausanner Friedensvertrages zum 100. Mal gejährt. Für die Türkei ein Grund zu jubeln, für die kurdische Bevölkerung weltweit ein Tag der Trauer und der Wut. Denn in Lausanne haben die «Siegermächte» des Ersten Weltkrieges beschlossen, Kurdistan in vier Teile aufzuteilen. Dies hat bis heute schwerwiegende menschenrechtliche Folgen. Doch die Kurden sind Meister des Widerstandes und der Selbstorganisation. In Nordsyrien haben sie mitten im Krieg ein Autonomiegebiet aufgebaut, dass nicht nur politisch, sondern auch sozial und ökologisch eine echte Alternative bietet: die «Demokratischen Föderation Nordsyrien» – besser bekannt unter dem Namen «Rojava».

Dort leben Kurdinnen, Assyrer, Araber, Christen und Turkmeninnen zusammen unter den Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte. Die Wirtschaft baut auf einem Netzwerk von Genossenschaften auf. Schon wenige Jahre nach der Gründung standen drei Viertel des wirtschaftlich genutzten Gebietes unter der Verwaltung von kleinen Kollektiven. Der Schulunterricht findet mehrsprachig statt. Seit 2014 wurden mehrere Hochschulen gegründet, die teilweise mit internationalen Universitäten zusammenarbeiten. Und vor Gericht steht es jedem und jeder frei, wahlweise auf die Bibel oder auf den Koran zu schwören.

Dass es die Autonomieverwaltung in Nordsyrien geschafft hat, Frieden und Stabilität zu gewähren und die rasch wachsende Bevölkerung zu versorgen, ist eine ausserordentliche Leistung. Zu Beginn wurde das Selbstverwaltungs-Projekt von internationalen Unterstützern als «demokratisches Experiment» bezeichnet – doch dieses ist inzwischen über sich hinausgewachsen.

Bedroht wird Rojava durch die – teilweise erfolgreichen – Rückeroberungsabsichten der syrischen Truppen und durch die Türkei, die das Erstarken von demokratischen kurdischen Kräften an seiner Grenze von Anfang an hart bekämpfte. Allein 2022 flog die Türkei laut «Medico International» 130 Drohnenangriffe auf Rojava, bei denen 87 Menschen starben und 150 verletzt wurden. Es wurden Getreidesilos, Elektrizitätswerke, Ölförderanlagen, Krankenhäuser, Schulen und Strassen zerstört, was die Versorgungslage erheblich erschwert und die Lebensbedingungen verschlechtert hat.

Doch warum greift die Türkei ein Gebiet an, von dem keinerlei Bedrohung ausgeht? Um diese Frage zu beantworten, muss man sich den historischen Kontext der letzten hundert Jahre in Erinnerung rufen – hundert Jahre erbitterten Kampfes gegen die Kurden im ganzen Nahen Osten.

Im Osmanischen Reich umfasste Kurdistan ein Gebiet von fast 500’000 Quadratkilometer mit einer Bevölkerung von heute rund 40 Millionen Menschen. Wenn die Kurden heute als Minderheit bezeichnet werden, hat dies nur einen einzigen Grund: Ihr Land wurde nach dem Ersten Weltkrieg brutal auseinandergerissen. Damit wurde die kurdische Bevölkerung in der Türkei, Syrien, dem Iran und dem Irak zur Minderheit. In der Türkei wird der Gebrauch der kurdischen Sprache, Musik oder Namensgebung als Bedrohung angesehen. Jahrzehntelang musste man mit einer Gefängnisstrafe rechnen, wenn man das Wort «Kurde» oder «Kurdistan» aussprach. Erst seit 1991 ist der private Gebrauch des Kurdischen kein Delikt mehr.

In den letzten hundert Jahren wurden Millionen von Kurden inhaftiert und gefoltert, hunderttausende getötet. Tausende von Dörfern wurden zerstört, Millionen von Menschen zwangsumgesiedelt und riesige Flächen Wald und Nutzland abgebrannt. Hunderttausende von Menschen flüchteten in die Nachbarländer oder nach Europa, viele leben bis heute im Exil und müssten bei einer Rückkehr in ihre Heimat mit einer sofortigen Festnahme rechnen. Dennoch haben die Kurden den Kampf um Selbstbestimmung und Autonomierechte nie aufgegeben. Das beste Beispiel dafür ist Rojava.

Das «demokratische Experiment» bietet Raum für soziale und ökologische Initiativen, von denen sich auch manch westliches Land inspirieren lassen könnte. Zum Beispiel das Frauendorf «Jinwar», das verschiedene Frauenorganisationen mit Unterstützung der Autonomieverwaltung vor fünf Jahren aufgebaut haben. Es ist nicht nur ein Zufluchtsort für Frauen und Kinder, sondern auch ein Ökodorf: Gebaut wird mit Lehm und Holz, der Strom wird mit Sonnenenergie erzeugt; im Genossenschaftsbetrieb werden Lebensmittel angebaut und weiterverarbeitet.

Jinwar verfügt über eine Schule, die auch von Kindern aus Nachbardörfern besucht wird, und über eine Klinik für Naturmedizin. Und über allem prangt der inzwischen weltbekannte Slogan «Jin, Jiyan, Azadî» (Frau, Leben, Freiheit).

Genau wie das restliche Rojava wird auch Jinwar basisdemokratisch und multikulturell verwaltet. Das Kollektiv umfasst inzwischen 70 Frauen und Kinder, darunter Kurdinnen, Jesidinnen und Araberinnen, die hier zusammenleben und von- und miteinander lernen: Witwen, die ihre Männer im Krieg verloren haben, Überlebende der IS-Gewalt, alleinstehende Mütter und nicht zuletzt Frauen, die vor einer Zwangsheirat oder häuslicher Gewalt geflohen sind. Denn das Patriarchat ist in den Gesellschaften des Nahen Ostens nach wie vor ein grosses Problem, mit dem die Frauen zusätzlich zur politischen Unterdrückung zu kämpfen haben.

Initiativen wie Jinwar zeigen, dass der Aufbau einer neuen Ordnung tatsächlich möglich ist. Wenn inmitten eines Kriegsgebiets ein von Frauen geleitetes Ökodorf entstehen kann, dann sollte Ähnliches wohl auch an jedem anderen Ort der Welt funktionieren. Voraussetzung ist der soziale Zusammenhalt und ein echtes kollektives Denken, das den westlichen Gesellschaften eher fremd ist.

Die Angriffe auf Rojava werden wohl nicht aufhören – und breite Unterstützung ist von der internationalen Welt nicht zu erwarten. Dennoch ist dort etwas entstanden, das nicht wieder ungeschehen gemacht werden kann: Menschen haben gezeigt, dass selbstverwaltete Demokratien als Lebensform möglich sind. In diesem Sinne: Experiment gelungen.

Die Langversion des Textes finden Sie in der Print-Ausgabe:
http://edition.zeitpunkt.ch/buch/machbar/

Der Originalartikel kann hier besucht werden