Während der Sommertage bin ich in Marina di Carrara und habe die Gelegenheit ergriffen, die Crew von Open Arms zu treffen, die wegen der Entscheidung unserer Regierung im Hafen festsitzt. Nach einigen anfänglichen Schwierigkeiten und einem ersten Gespräch mit einer Krankenpflegerin, die zu den Mitarbeitenden von Open Arms gehört, traf ich den Kapitän des Schiffs. Hier ist seine Geschichte.
Kannst du dich kurz vorstellen?
Mein Name ist Ricardo Sandoval, ich bin Argentinier, ich lebe seit mehreren Jahren in Spanien. Ich bin seit 2017 einer der Kapitäne bei Open Arms. Wir stecken derzeit hier in Marina di Carrara fest aufgrund des jüngsten Gesetzbeschlusses Nr. 20 von 2023, den wir inzwischen gut kennen.
Wie kommt es, dass ein Argentinier hier gelandet ist?
Ich bin aus Mar del Plata, einer Küstenstadt südlich von Buenos Aires; aus Neugierde zog ich, wie viele andere Argentinier, nach Spanien und blieb hier.
Weiß Argentinien, was hier im Mittelmeer geschieht?
Ich tue, was ich kann, um sicherzustellen, dass die Nachrichten dort ankommen; ich kenne einige Medienschaffende in Mar del Plata, aber in Wirklichkeit befürchte ich, dass wir selbst hier in Europa nicht genug darüber wissen, was in eurem Meer passiert. Ich glaube aufrichtig, dass das Hauptziel von Politiker:innen ist, dafür zu sorgen, dass alles, was passiert, unsichtbar ist, oder nicht viel beachtet wird.
Könntest du der Kapitän irgendeines anderen Schiffes sein?
Ja, sicher doch. Letztendlich wählt man.
Verglichen mit der Führung anderer Schiffe, ist das, was du jetzt tust, komplizierter, interessanter?
Es ist definitiv interessanter und lohnender. In einem kommerziellen Seefahrzeug gibt es bestimmte Arten von Belastungen, hier gibt es andere. Ich glaube nicht, dass es schwieriger oder komplizierter als andere Situationen ist; selbst hier, auch wenn man die Dynamik kennt, gibt es eine normale Routine. Es handelt sich natürlich um ein Schiff von 1974, das in die Jahre gekommen ist und regelmäßig gewartet werden muss.
Kannst du versuchen, dein Tagesablauf zu beschreiben?
Früher gab es ein Koordinationszentrum, das uns informiert hat; es hat uns angerufen und wir legten los. Jetzt existiert diese Koordination nicht mehr, aber zum Glück gibt es NGOs, die Flugzeuge besitzen und uns informieren. Wir bewegen uns mitten im Meer und decken einen sehr großen Teil davon ab.
Ganz allgemein gesagt, gab es bis jetzt drei Phasen: eine, in der man nach der Rettung der Menschen zum nächstliegenden Hafen fuhr; eine, in der (unter Ministerpräsident Salvani) man Tage und Nächte mitten im Meer warten mussten; und jetzt, diese Phase, in der man zu nördlichen Häfen geschickt wird, um Zeit, Geld und Energie zu verschwenden.
Ja, das stimmt, sie setzen uns für eine Weile aus dem Gefecht, damit wir unseren Job nicht machen können, und vor allem damit wir nicht sehen können, was geschieht.
Kannst du für uns beschreiben, was während des letzten Einsatzes geschehen ist?
Die neue Vorschrift bedeutet, dass du, wenn dir ein Hafen zugeteilt wird, schnell und direkt zu diesem Hafen gelangen musst, du darfst nicht ausweichen, um andere Leute zu retten, und erst recht nicht zurückfahren.
Aber sehen sie deinen Standort? Ist es nicht möglich, etwas „insgeheim“ zu tun?
Das geht nicht, zum einen, weil sie uns auf dem Radar sehen, und zum anderen, weil wir unseren Standort alle 12 Stunden senden.
Ihr steht aktuell unter „Hausarrest“, weil ihr eine zweite Gruppe gerettet habt: hattet ihr irgendwelche Zweifel darüber, ob ihr es tun solltet oder nicht? Wusstet ihr, was die Konsequenzen sein würde?
Ja, das wussten wir. Die Frage war nicht, ob wir sie retten sollen oder nicht, sondern nur, ob es jemand anderen gibt, der es tun könnte. Wir haben sehr hartnäckig nach anderen Rettern gefragt, und als wir merkten, dass es niemand gab, fuhren wir entschlossen hin, ohne irgendwelche Zweifel.
Was würdest du in wenigen Worten denen sagen, die dir unterstellen, dass du Geschäfte mit der Mafia machst, dass du ein „Wassertaxi“ bist, etc.?
Lass sie mitfahren, ja, lass sie auf unser Boot steigen, lass sie mit uns kommen, um es zu sehen, lass sie es aus erster Hand erleben.
Wie ist dein Verhältnis zur italienischen Küstenwache?
Auch sie retten auf dem Meer, sie arbeiten. Vielleicht machen einige von ihnen es zögernd, andere nicht, aber allein wegen der Tatsache, dass es Menschen auf dem Meer sind, müssen sie gerettet werden, und damit hat es sich. Punkt.
Wie viele seid ihr?
Wir sind zwanzig Leute, neun sind Teil der Crew, die auf dem Meer bleiben muss, und zusätzlich dazu gibt es elf Ehrenamtliche, von denen einige mitretten und andere im medizinischen Team sind.
Seid ihr eng miteinander verbunden? Gibt es Spannungen? Erschöpfung?
Wir kommen gut miteinander aus. Anfangs gibt es eine Menge Training, und dann bereiten wir uns als Gruppe vor jedem einzelnen Einsatz vor. Die Einsatzleitung ist sehr erfahren und kümmert sich darum. Das Team arbeitet Tag und Nacht wie eine „Maschine“.
Dann, wenn ihr 100, 150 Leute an Bord nehmt, ändert sich alles…
Ja, aber wir sind gut vorbereitet, alles muss funktionieren, bei den Mahlzeiten angefangen. Während unsere in der Kombüse zubereitet werden, werden ihre an Deck zubereitet, die Mengen sind groß.
Wie sind die Stimmungen der Leute, die ihr rettet? Zufriedenheit, Freude, Wut, Verzweiflung…
Alles ist dabei, es hängt von der Situation ab. Manchmal retten wir Leute, die einen Tag lang auf See waren, manchmal 4 oder 5 Tage: das macht einen großen Unterschied. Es ist nicht einfach, sofort zu überprüfen, wie es den Menschen geht, und bei den schwersten Erkrankungen zu helfen. Manchmal werden ohnmächtige Leute hochgetragen, dann gibt es Wunden, Krankheiten, Schmerzen…
Wie viele Tage warst du höchstens auf dem Schiff mit dieser Ladung Menschlichkeit und Leid?
Ich erinnere mich, einmal waren es 21 Tage, aber ich war nicht da und ich wäre nicht gerne dabei gewesen. Es war verrückt. Nach dem Auslaufen blieben sie vor Lampedusa stehen. Leute sahen die nahgelegene Insel und sprangen ins Meer, das Team musste Tag und Nacht vorsichtig sein, um zu verhindern, dass jemand ertrinkt. Es war sehr anstrengend und es geschah während Salvinis Legislaturperiode. Der Kapitän war ein Freund von mir…
Wir wissen, dass es einer der schwierigsten und gefährlichsten Momente sein kann, wenn sie dich sehen und sich nähern. Die Aufruhr oder die Bewegung aller zu einer Seite kann das Boot zum Kentern bringen. Kannst du beschreiben, was passiert?
Ja, wir sind jetzt darauf vorbereitet, wir haben herausgefunden, wie wir es tun sollten. In der Zwischenzeit nähern sich unsere beiden Schnellboote, eines auf der einen und eines auf der anderen Seite, um das Gleichgewicht zu wahren. Sie halten mit weitem Abstand von dem Boot an und signalisieren mit einem Megafon, auf Englisch oder mit Gesten, dass sich alle hinsetzen und nicht schreien sollen. Erst wenn alle sitzen, nähern sich die Boote. Wir mit dem großen Schiff bleiben weiter weg, je nach Seegang, aber wir können auch weniger als 100 Meter entfernt bleiben.
Habt ihr Menschen direkt aus dem Wasser gerettet?
Ja, es ist schwierig, man muss schnell herausfinden, wer es noch eine Weile länger aushalten kann und zuerst diejenigen einsammeln, die am Ende ihrer Kräfte sind.
Gibt es keine Momente der Entmutigung, in denen du sagen möchtest: „Genug! Ich kann das nicht mehr aushalten! Diese Welt ist schlimm!“?
Ja, natürlich, aber wir bestärken uns gegenseitig, die Einigkeit zwischen uns ist wichtig. Es gibt jedoch ein psychologisches Online-Team, das uns während des gesamten Einsatzes unterstützt, sobald wir um Hilfe fragen. Und dann reden wir auch am Ende darüber, weil es geschehen kann, dass man mitten in der Aktion durch das Adrenalin und alle Ereignisse stark und widerstandsfähig ist, aber dann kollabiert. Bilder, Augen, Blicke, Schreie, und Eindrücke bleiben in dir… Natürlich besitzen wir nicht unendliche Energie und auf lange Hinsicht ist diese Arbeit erschöpfend; ich erinnere mich an einen früheren Kapitän, der mir sagte: „Dieser Job hat eine Deadline, du riskierst es, schlecht zu enden, du musst davor aufhören.“ Ich komme fast an diesen Punkt (lacht).
Wie ist der Moment der „Rückkehr“ ans Land?
Im Allgemeinen ist er gut, etwa 80% der Zeit werden wir gut behandelt. In dem Moment klatschen viele, die das Boot verlassen, von manchen auf dem Festland kommt sogar Applaus, von anderen weniger… (lächelt).
Was passiert in Spanien stattdessen?
In Spanien gibt es zwei mögliche Routen: die der Kanaren, wo die Reise sehr gefährlich ist, weil sie über den Ozean führt. Wir können gewissermaßen sagen, dass dort kein Bedarf an NGOs vorliegt. Es gibt dort ein Unternehmen, das vom spanischen Staat beauftragt ist und über vier große Boote verfügt, die sich dieser Aufgabe widmen. Die andere Route ist die Straße von Gibraltar: Hier herrscht ein reges Kommen und Gehen von kleinen und großen Booten, die für die Rettung zuständig sind. In diesem Fall ist die Strecke sehr kurz und es kommen schwer beladene kleine Boote aus Marokko an.
Jetzt müsst ihr 20 Tage hierbleiben und 10.000 Euro zahlen. Glaubst du wirklich, dass ihr 20 Tage bleiben und diesen Betrag zahlen werdet, oder gibt es einen Weg, diese Zeit zu verkürzen?
Das werden die Anzahl Tage sein, man kann ihnen nicht entkommen, aber die Geldstrafe funktioniert wie die der Autofahrer; wenn du sofort zahlst, wird sie reduziert, und ich glaube, wir haben schon gezahlt!
Wärt ihr sonst bereit gewesen, wieder das Land zu verlassen?
Ja, wir wären hier für 2 bis 3 Tage geblieben und hätten dann das Festland wieder verlassen, aber stattdessen herrscht Stillstand, wir mussten alle Bestellungen stornieren, vor allem die Lebensmittellieferungen.
Wie hast du die Nachricht von der Verhaftung aufgenommen?
Ehrlich gesagt, nach den Ermittlungen und der Befragung von mir und dem anderen Offizier, gefolgt von einem Tag des Schweigens, haben wir es erwartet. Die Freiwilligen verließen das Boot, normalerweise würde es sonst einen Austausch der Freiwilligen geben.
Wenn du mit der italienischen Regierungschefin sprechen könntest, was würdest du ihr sagen?
Was ich schon gesagt habe: ob sie mit uns kommen will, ob sie dieses Boot besteigt oder eines der anderen. Vielleicht würden sich einige Dinge ändern. Andererseits, ich glaube nicht, dass das hier die Lösung ist, ich glaube fest, dass Leute nicht gezwungen werden sollten, ihr Land oder ihr zuhause zu verlassen, sie sollten Hilfe bekommen, um sich dort besser zu fühlen, wo sie geboren wurden. Vielleicht würden sie besser leben, wenn wir aufhören würden, diesen Teil der Welt auszubeuten.
Hast du nicht in Argentinien angesichts der enormen Wirtschaftskrisen, die du erlebt hast, auch Phasen starker Auswanderung durchgemacht?
Ja natürlich, aber sie waren weniger sichtbar. Alles wird auf eine sichere Art gemacht. Man verlässt einen Ort per Flugzeug mit einem Touristenvisum und bleibt dort, ohne das eigene Leben gefährdet zu haben. Die, die per Boot fliehen, sind diejenigen, die kein Flugticket bekommen. Und ja, sogar mit diesen ramponierten Booten sind die Reisen nicht kostenlos, ganz im Gegenteil!
Hier in Italien erinnert man sich natürlich kaum daran, wie viele Millionen Italiener nach Argentinien, Brasilien, Peru, Venezuela und in die USA gingen.
Ich glaube, wir müssen daran arbeiten, damit Menschen sich sicher bewegen können, es muss sichere Reiserouten geben. Wir müssen auch an der Verteilung arbeiten: ganz bestimmt kann sich Italien allein nicht um all die Migranten kümmern, die ankommen. Wenn sie besser verteilt wären, würden diese Leute viel weniger auffallen.
Kannst du anhand der Menschen auf dem Boot ableiten, wo sie herkommen?
Nein, die Boote könnten aus nahegelegenen Gegenden kommen, zum Beispiel Libyen oder Tunesien, und transportieren Leute, die aus verschiedenen Teilen Afrikas reisen. Früher gab es nur Gummi- oder Holzboote, jetzt kommen die Menschen auch in Blechbooten an, die sogar noch unsicherer sind, eine Katastrophe. Früher wurden diese Boote versenkt, nachdem sie geleert wurden, jetzt ist das nicht mehr möglich: sie bleiben auf dem Meer, treibend. Was wir tun, als NGO, ist, sie zu markieren, damit Leute wissen, dass die Menschen von diesem Boot gerettet wurden, sonst könnten sie denken, dass alle ertrunken sind. Aber diese Boote, die mitten auf dem Meer bleiben, können für die Schifffahrt im Mittelmeer problematisch sein.
Wenn sie an Bord kommen, kannst du erraten, ob einer von ihnen der Schleuser ist?
Nein, obwohl ich glaube, dass sie einem der Migrierenden das Kommando über das Boot übertragen und keiner derjenigen, die von diesem Handel profitieren, an Bord geht: Das ist viel einfacher. Das ist ihnen egal. Sie geben den Migrierenden ein rudimentäres Boot, etwas Treibstoffvorrat, ein paar grobe Anweisungen und verabschieden sich. Die Menschen auf dem Boot sind so unerfahren, dass sie beim Tanken eine Menge Treibstoff auf den Boden des Bootes verschütten, und daher kommen die vielen Hautverbrennungen.
Begegnest du Fischern? Könnten sie zusätzliche Augen auf dem Meer sein?
Ja, es ist schon vorgekommen, Fischer können Meldung erstatten. Es muss jedoch gesagt werden, dass die großen Handelsschiffe einem Unternehmen und seinen Zwängen gehorchen. Manchmal (das hängt vom Kapitän ab) tun sie so, als sei nichts passiert, oder sie unterstellen sich den Anweisungen der zuständigen Behörde. Wenn sie sich entfernen, ohne etwas zu tun, und jemand sieht sie, können sie natürlich angezeigt werden.
Danke
Danke dir; einen Kaffee?
Am Ende zeigt er mir das ganze Schiff, die Kombüse, die Kühlräume, die Wasser- und Lebensmittelvorräte, die Kabinen, in denen die Mannschaft schläft: es ist eine ganze Welt… Ich stelle mir das Deck voller Menschen vor, die sich hinlegen, und die Kinder, die herumspringen…
Ich lade sie am Nachmittag ein, lade vier von ihnen ins Auto, weil mindestens drei immer an Bord bleiben müssen, und wir machen eine Tour durch die Marmorbrüche. Wir fahren auch nach Colonnata, wo sie eine Speckseite probieren: Sie freuen sich, nach zu viel Hitze ein wenig Abkühlung zu bekommen. Eine Besichtigung der Steinbrüche und dann Carrara, auch für sie etwas frische Luft… Bei ein paar Gelegenheiten stelle ich sie an einer Bar oder in einem Geschäft vor und sage begeistert: „Das sind die Spanier von Open Arms!“ Jemand gibt uns einen Rabatt, aber ein Mann fängt zum Beispiel an, mir zu sagen, dass er nicht daran glaubt, und dass NGOs Geschäfte machen…so sehr, dass die Leute von Open Arms mir sagen, ich soll es seinlassen und sie nicht vorstellen: „Nicht, das noch jemand auf schlechte Ideen kommt, wir stehen doch da, die können uns doch immer ärgern.“ Daran hatte ich nicht gedacht, wie naiv von mir…
Übersetzung aus dem Englischen von Jasmin Kreutzer vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!