Eine Mutter kritisiert die erdrückenden gesellschaftlichen Verhältnisse, unter denen man heute Kinder bekommen und grossziehen muss.

Es gibt sie; jene Bücher, die bereits vor ihrer Ankündigung sehnlichst erwartet werden. „Kinderhaben“, der Bericht der 1972 geborenen Heide Lutosch, ist ohne Frage Anwärter auf diesen Titel. Und das, obwohl es in weiten Teilen ein ernüchterndes Buch ist. Nicht, weil es mehr verspricht als es halten kann. Es ist vielmehr sein Gegenstand, der Grund zur Ernüchterung gibt.

Lutosch gibt in 32 Episoden ungeschönt Auskunft über ihr Leben als Mutter in einer heterosexuellen Beziehung. Beim Kindhüten fühlt sie sich in den eigenen vier Wänden zunehmend isoliert, einsam und entfremdet. Der Berg an Sorgeaufgaben bei zeitgleichem Anspruch, dem Kind Aufmerksamkeit und Liebe zu schenken, zerreisst sie innerlich. Zudem ist sie von Müttern und Eltern umgeben, die sich immer mehr einem bürgerlichen Familienidyll und dem Konsumismus hinzugeben scheinen, statt sich an ihren eigenen Bedürfnissen und Ideen zu orientieren. Auch Lutoschs Beziehung zu ihrem Partner leidet unter der Asymmetrie der Arbeitsverteilung, die sich für Lutosch zunehmend auch in einer emotionalen Schieflage äussert. Von mütterlicher Zufriedenheit und Optimismus macht sich die Autorin frei. Man geht aus dieser Lektüre also nicht ohne eine gehörige Portion Zweifel am Konzept des (partnerschaftlichen) Kinderkriegens heraus.

Kinder ihrer Eltern

Obwohl es ein persönlicher Essay ist, schildert Lutosch auf zugleich bestechend analytische Weise die Erfahrungswelt vieler Mütter. Es geht um eine ganze Generation von Müttern, die sich aus ihrer eigenen (westdeutschen) Familiengeschichte heraus von ihren Müttern abgrenzen wollen. Man wollte vermeiden, in der Eintönigkeit des Hausfrauendaseins abzustumpfen und unglücklich zu werden. Es ging darum, sich selbst zu verwirklichen und trotzdem Kinder zu haben — auch, indem man die Sorgearbeit gerecht verteilt. Vieles davon ist Lutosch und ihrem Partner nicht gelungen und vieles wurde, damit es gelingt, von ihr mit Abgabe eigener Autonomie und Zeit bezahlt. Sie habe sich in ihrem Muttersein zusehends von sich und von der Mutterschaft selbst entfremdet, schreibt Lutosch.

Auch heute stecken (heterosexuelle) Mütter noch deutlich häufiger als ihre Partner für das Kind zurück und plagen sich mit der ungleichen Verteilung der Sorgearbeit. Immer noch ist die Frau verstärkt für den Haushalt verantwortlich und der Mann bleibt der Hauptverdiener. Es hat sich trotz steigendem Anteil von erwerbstätigen Frauen und von Vätern in Elternzeit scheinbar nicht viel an den Verhältnissen geändert.

Lutosch benennt aber auch die Siege der Zweiten Frauenbewegung. Zweifelsohne sind das zum Beispiel neue Familien- und Erziehungsmodelle. Dass Männer freiwillig von patriarchalen Privilegien Abstand nehmen und sich als Väter verstehen wollen, stellt Lutosch fast schon verwundert fest. Denn in den schwierigen Situationen der Care-Arbeit würde sie sich oft nur zu gerne in die Rolle des Patriarchen retten. Der könne schliesslich nach dem Frühstück zur sinnstiftenden Arbeit aufbrechen, die Haushaltsarbeit meiden und zum Feierabend nach getaner Erwerbsarbeit noch in den Genuss des Familienlebens kommen.

Balsam der Kritik

Nur selten wird laut zur Sprache gebracht, dass der Weg der Sorge und Erziehung ein steiniger ist. Und vermutlich hört man noch seltener, dass dabei auch viele der eigenen Ansprüche und womöglich sogar ein Teil von einer*m selbst auf der Strecke bleibt. Lutosch hingegen ist nicht zimperlich: Sie ordnet nicht nur äusserst kritisch die eigene Elternschaft ein, sondern scheut auch nicht vor Kritik an anderen Müttern und Eltern. „Kinderhaben“ äussert somit auch eine Ablehnung des vorherrschenden und laut der Autorin ideologischen Verständnisses, wie man Kinder kriegt und hat, aber auch wie man sie umsorgt und grosszieht.

Vielleicht zeigt sich gerade hieran der rasche Erfolg dieses kleinen Buches, dessen bisweilen schonungslose Kritik einen Nerv zu treffen scheint. Bereits kurze Zeit nach Erscheinen zieht es seine Bahn durch verschiedenste Milieus und wird angeregt diskutiert. Es ist Lutoschs Kritik des scheinbar Unkritisierbaren, die viele Menschen — ob mit oder (noch) ohne Kind — anspricht. Denn auch heute noch kommt es einem Tabubruch gleich, das eigene Kinderkriegen (und das der Anderen) kritisch zu betrachten. Ein Kind zu kriegen, ist Glück – und immer noch eine gesellschaftliche Norm. Über bestehende Probleme und Hürden des Kinderhabens zu sprechen, ist unangemessen. Gerade in der individualisierten Leistungsgesellschaft ist es für Mütter nur schwer möglich, das eigene Leid an der Familie zu artikulieren oder überhaupt zu ergründen. So hat „Kinderhaben“ gerade wegen seiner Ernsthaftigkeit und Rigorosität etwas Wohltuendes. Lutosch bedient sich zwar der marxistischen, feministischen und psychoanalytischen Theorie, doch seine Überzeugungskraft erhält der Text erst durch die Klarheit, mit der Lutosch ihre eigene Rolle als Mutter und als Frau in einer heterosexuellen Beziehung reflektiert.

Es sein lassen?

Was den Müttern bleibt, um nicht zu vereinzeln, demonstriert Lutosch ebenfalls: Es geht darum, den Frust, die Scham, die Wut und die Sorge um das Kind wie um sich selbst nicht herunterzuschlucken. Doch wie kann man seine Selbständigkeit in Anbetracht eines anhaltenden Abhängigkeitsverhältnisses behaupten oder stückweise wiedererlangen? Lutosch hat irgendwann angefangen, ihre „kostbare, kinderfreie Zeit“ (S. 95) zu verteidigen, um im Wortsinn bei Bewusstsein zu bleiben.

Der Kampf um die eigene Zeit stellt sich nach wie vor primär als ein Kampf um die gerechte Verteilung der Sorgearbeit dar. Doch ein Widerspruch des Kinderhabens bestehe laut Lutosch auf einer noch grundlegenderen Weise: Unter den aktuellen gesellschaftlichen Umständen wird all denen, die Kinderkriegen und Emanzipation zusammen denken, Widerstand entgegenschlagen. Ohne Enttäuschung und Erschöpfung geht es nicht. Selbst alternative Familienmodelle und Hausprojekte sind laut Lutosch nur teilweise und nie langfristig erfolgreich. Inseln der freien Erziehung fernab des Kapitalismus gibt es nicht.

Obwohl Lutosch in ihrem Buch aus der Erfahrung als Mutter schreibt, dreht sich die Perspektive manchmal um. Hier zeichnet der Essay ein nicht weniger erschreckendes Bild: Auch den Kindern bleibt ein Verhältnis zu den Eltern, das sich in Langfristigkeit, Geduld, Vertrauen und Zugewandtheit übt, allzu häufig versagt. Denn „Kinder sind langsam, irrational, nonverbal, sprunghaft, spontan, laut, uneinsichtig, verträumt und stur, und wer ihnen das nicht viel zu früh und viel zu hart austreiben will, braucht viel Geduld, Zeit, Geld, Ruhe und Schlaf“ (S. 98). All das steht Eltern oft nur bedingt zur Verfügung. Das Leben und Arbeiten im Kapitalismus sticht die Erziehung und das Kinderlieben aus.

Grund genug, anzunehmen, „Kinderhaben“ sei ein Plädoyer gegen das Kinderkriegen, wenn doch so vielen Müttern angesichts ihrer Doppel- beziehungsweise Mehrfachbelastung die Luft zum Atmen fehlt; und Erziehung in emanzipatorischer Absicht immer an denselben Spielregeln scheitert. So sind es vielmehr die Bedingungen des Kinderhabens als der Kinderwunsch, die Lutosch problematisiert. Sie bezeichnet sich explizit nicht als „regretting mother“ (Donath 2015), das heisst sie bereut ihren Kinderwunsch und ihre Mutterschaft nicht. Sie würde sich sogar wieder für ein Kind entscheiden, aber definitiv nicht für das Kinderhaben unter den derzeitigen gesellschaftlichen Bedingungen und Geschlechterverhältnissen. Zweifelsohne muss sich also etwas Grundlegendes ändern. Und dafür braucht aber auch: die Mütter als politische Subjekte.

Thore Freitag
kritisch-lesen.de

Heide Lutosch: Kinderhaben. 2. Auflage. Matthes und Seitz, Berlin 2023. 103 Seiten. ca. SFr. 14.00. ISBN: 978-3-7518-0569-8.

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