Seit dem 7. Dezember 2022 erlebt der Andenstaat zum ersten Mal eine Diktatur, an deren Spitze eine Frau steht: Dina Boluarte, ehemalige Vizepräsidentin Pedro Castillos, zeigte sich im Wahlkampf mit Pollera, sprach Quechua und versprach, eine verfassungsgebende Versammlung einzuberufen. Als Castillo mit dem Rücken zur Wand stand, versicherte Dina ihre Unterstützung bis zur letzten Konsequenz, doch nach seinem Sturz richtete sie sich in ihrer Machtposition ein und paktierte mit der extremen Rechten. Ihre Versprechungen und die Forderungen der überwiegend andinen Bevölkerung, die für Castillo und für sie gestimmt hatte, schien sie völlig vergessen zu haben. Die südlichen Regionen Perus hatten mit überwältigender Mehrheit Castillo ihre Stimme gegeben, dementsprechend brachen dort die ersten Proteste gegen Boluartes Machtübernahme los. Die Reaktion der neuen Regierung war von Anfang an brutal und überzogen. Die Bilanz: über 70 Tote, kein Schuldiger. Wie organisieren sich die feministischen Bewegungen in diesem Kontext? Radio Matraca sprach mit zwei feministischen Aktivistinnen aus verschiedenen Regionen und Generationen, Marita Rodríguez und Yuli del Pilar, über die Aktionen und Forderungen der feministischen Bewegungen in Peru.
Ein Volksaufstand mit vielen neuen Protagonist*innen
“Niemand hat das Gefühl, von der Zentralregierung vertreten zu werden. Alle, Männer, Frauen, Jugendliche, Kinder, LGBITQ`s – alle fühlen sich übergangen und unterdrückt, und daraus ist dieser breite Protest entstanden. Es sind viele neue Gesichter dabei, neue Leute, die sich den Aktionen angeschlossen und eine Art regionalen Volksaufstand entfacht haben, der nicht der Linie der alten linken Parteien entspricht“, erzählt Marita. Die lesbisch-feministische Aktivistin lebt in Callao, einer Hafenstadt bei Lima. Sie hat in den 1990er Jahren in der Ukraine Ingenieurwissenschaften studiert und ist seit ihrer Jugend mit dem Sozialismus und Feminismus verbunden. Heute engagiert sie sich in der Volksbildung durch urbane Kunst. “Die Rechtsstaatlichkeit ist von dem Moment an verloren gegangen, als damit begonnen wurde, Mobilisierungen und Demos durch den Einsatz nicht zugelassener Waffen aufzulösen. Sobald die Menschenrechte und vor allem das Recht auf Leben, nicht mehr geachtet werden, haben wir eine zivil-militärische Diktatur. Wir hatten hier monatelang Ausnahmezustand. Die Region, aus der ich komme, Puno, wurde militarisiert, die Aymara-Region und vor allem Juliaca, wo der Konflikt am stärksten war. Die Straßen waren voller Polizei und Militär. Und schlimm ist auch, dass den Angehörigen derjenigen, die bei diesen Protesten gefallen sind, nicht einmal ein Minimum an Respekt entgegengebracht wurde. Sie haben uns faktisch ein Verfassungsrecht abgesprochen, das 1993 unter der Diktaturregierung von Alberto Fujimori eingeführt wurde: nämlich das Recht zu protestieren”, kommentiert Yuli. Auch sie stammt aus Puño. Seit zehn Jahren engagiert sie sich in der feministischen Bewegung. Ihre erste Begegnung mit Frauen*kämpfen hatte sie durch die Fenmucarinap, die Nationale Föderation der Bäuerinnen, Handwerkerinnen, Indigenen, Ureinwohnerinnen und Angestellten Perus. Zum Zeitpunkt dieses Interviews befand sie sich in Brüssel auf einer Tagung von Amnesty International.
Das extraktivistische Modell bringt Geld, aber die Bevölkerung bleibt arm
Zu den Hauptproblemen, mit denen die peruanischen Bürgerinnen und Bürger derzeit konfrontiert sind, gehören die steigenden Preise, die Unsicherheit auf Reisen und der Rückschritt in der öffentlichen Politik zur Förderung von Frauen, LGBTIQ’s und indigenen Völkern. “Es gibt eine hohe Hyperinflation bei Lebensmitteln, bei Grundnahrungsmitteln, und es fehlen jegliche Sicherheitsgarantien für die Menschen. Transnationale Konzerne profitieren vom Extraktivismus in diesem ressourcenreichen Land, und es kommt dadurch auch viel Geld rein, aber bei der Bevölkerung kommt davon wenig an. Statt dessen verschärft sich die Gewalt gegen Frauen. Viele Frauen verschwinden, die Feminizidrate steigt, und immer mehr Mädchen werden in sehr jungen Jahren schwanger”, erzählt Marita. Und wie sieht es auf den Straßen aus? Dazu María: “Für die Militarisierung des Landes wurde ein riesiges Budget bereitgestellt. Die peruanische Polizei darf per Gesetz auf Menschen schießen, ohne dafür zur Verantwortung gezogen zu werden. Wir haben keine verfassungsmäßigen Garantien, und wir haben kein Recht auf Freizügigkeit, denn sie können dich auch auf der Straße abfangen, deinen Rucksack kontrollieren, als Zeugen gegen dich aussagen, dich verhaften und dich misshandeln, bis sie dich wieder rauslassen, falls sie dich je rauslassen. Das ist Teil des faschistischen neoliberalen Modells.”
Nach dem Verlust von Menschenleben in den südlichen Regionen zogen die Demonstranten im Januar und Februar dieses Jahres nach Lima. Die als La Toma de Lima I und II bezeichneten Mobilisierungen waren von gewaltsamer Unterdrückung und körperlichen und rassistischen Angriffen auf indigene Frauen geprägt. Yuli, die aus Llave, dem Zentrum der Aymara-Nation, stammt, erzählt uns über die Rolle der Aymara-Frauen: “Wir, die Frauen des Südens, haben uns in die vorderste Reihe der Bewegung gestellt. Wir haben innerhalb der Olla Común unseren Protest organisiert, und als Frauen sagen wir ganz deutlich, dass wir Dina nicht als unsere Präsidentin anerkennen. Dina hat in ihren Reden, in ihrer politischen Kampagne und sogar als Vizepräsidentin an der Seite von Pedro Castillo Versprechungen gemacht, die sie nicht erfüllt hat. Stattdessen hat sie sich in den Dienst des Faschismus und des rechten Flügels gestellt, der heute an der Regierung ist. Es ist nicht einmal wirklich Dina, die regiert, sondern dieser ganze knallharte rechte Block, der wirtschaftlich gesehen nur für einen kleinen, eingeschränkten Sektor denkt, im Sinne des Monopolkapitals, und die breite Mehrheit ignoriert.”
Feministinnen gegen Dina Boluarte
Marita berichtet über die Rolle der feministischen Genossinnen in Lima bei der Ankunft der Delegationen aus den Provinzen: “Woher stammt die Unterstützung für den Aufstand? In diesem Fall haben viele unabhängige feministische Genossinnen in Gruppen mobilisiert, es sind wirklich Gruppen mehr als Kollektive, sie haben innerhalb der Ollas Comunes mobilisiert, auch bei den Olla-Strukturen der LGBTIQs, sie haben in Lima Erste Hilfe-Initiativen organsiert, es kamen viele Frauen, die Tränengasbomben entschärfen. Die feministischen Genossinnen in den Institutionen stellen Dokumente aus, unterstützen die Menschenrechtskoordinatorin, gehen mit Anwältinnen in die Polizeistationen, um Gefangene herauszuholen, die misshandelt und geschlagen wurden (…) Aus den Regionen kommen die Genossinnen und bringen Lebensmittel, frische Kleidung, Medizin, sie unterstützen die Proteste, wo sie können. Nach der ersten großen Toma war alles sehr schwierig, sie haben den Leuten die Kleidung weggenommen, ihre Ausweise, alles. Sie mussten mit anderen Schuhen weitergehen. Wir haben Menschen mit allen möglichen Wunden verarztet, mit Verbrühungen und Verbrennungen, es fehlte an allem, und es war schwer, sich die Motivation zu erhalten. Das war also die Taktik des Staats: Angst zu machen, damit sich niemand bewegt. Auch die Preiserhöhungen sind Teil dieser staatlichen Terror-Taktik, auch sie sollen verhindern, dass die Leute sich organisieren. Aus dem Süden Perus haben wir in der feministischen Bewegung viele Jahre lang gekämpft, aber heute werden unter der Leitung von Dina öffentliche Strukturen zur Förderung von Frauen, Kindern, Geschlechtergerechtigkeit, sexueller Vielfalt, und der Verteidigung von Indigenen und ihren Gebieten praktisch zerschlagen. Alles, wofür wir uns jahrelang als indigene Bewegung eingesetzt haben, bricht nun zusammen. Also haben wir als feministische Bewegungen im Süden begonnen, unsere Forderungen als Frauen der indigenen Bewegungen und als Feministinnen zu formulieren. Denn auch wenn wir aus unterschiedlichen ideologischen Spektren oder aus unterschiedlichen Regionen und Kulturen kommen, haben wir als Frauen Forderungen, die in allen Sektoren und Themenbereichen berücksichtigt werden müssen.”
Bartolina Sisa, Vorbild der Aymara-Frauen
Das Engagement und das politische Handeln der Frauen in der Provinz auf familiärer, kommunaler und regionaler Ebene findet seit vielen Jahren im Verborgenen statt. Dabei betrachten viele Frauen den Feminismus und die kommunale Organisierung als den besten Ausweg aus der politischen und sozialen Krise. Es sind die Frauen, die die Familien- und Gemeindestrukturen in Peru aufrechterhalten. Für die Aymara-Frauen im Süden an der bolivianischen Grenze sind historische Persönlichkeiten wie Bartolina Sisa eine wichtige Orientierung. Bartolina war eine Aymara-Heldin, die sich zusammen mit ihrem Mann Julián Apaza, bekannt als Túpac Katari, während der Zeit des Vizekönigreichs gegen die spanische Kolonialmacht wehrte. “Sie erinnert mich an meine Großmutter, die in der Gegend von Ilave eine zweite Bartolina war, und auch an meine Mutter, ich glaube, sie beide waren große Anführerinnen, die anonym geblieben sind. Sie hatten keine politische Position oder so, aber sie haben den gesamten Prozess der Frauenbefreiung unterstützt, und ich glaube, dass das meine Entwicklung wesentlich geprägt hat”, meint Yuli und fügt hinzu: “Der Feminismus hat mir bei der Entwicklung meines Denkens, meiner Persönlichkeit und vor allem bei meiner Selbsterkenntnis geholfen. Ich denke, auch diese Bewusstseinsprozesse sind wichtig, es ist wichtig, dass wir uns alle zusammenschließen und selbst organisieren können, denn das ist oft unsere große Schwäche: dass wir keine gemeinsamen Ziele formuliert kriegen und in der Diskussion stecken bleiben und nicht die Veränderungen erreichen, die wir gerne erreichen würden.”
Für einen vielfältigeren, pluralistischeren und harmonischeren Feminismus
“Unser Land, Peru”, fährt Marita fort, “ist ein Land der jungen Menschen, und wir brauchen einen Generationswechsel mit Vorschlägen zur Überwindung von Ethnie, Geschlecht, Klasse, gesellschaftlicher Stellung als opportunistische oder neoliberale Machtfaktoren. Die feministische Bewegung in Peru macht derzeit eine neue Entwicklung durch, denn bei uns gab es viele Spaltungen wegen der Diktatur und seiner egozentrischen und opportunistischen Doktrin. Wir können auch die Tatsache nicht ignorieren, dass auch Frauen Teil des Unterdrückungssystems sind. Und seit wir uns den Zugang zu Bildung erkämpft haben, ist klar, dass auch wir lernen müssen. Wir müssen lernen, verinnerlichte patriarchale Strukturen zu überwinden, um antirassistische, dekoloniale und antimilitaristische Positionen und Gegenpositionen zum extraktivistischen Modell zu entwickeln. Dabei darf nicht vergessen werden, dass die Feministinnen aus der Provinz erst seit zwei oder drei Generationen Zugang zu diesem komplexen Instrument namens Bildung haben, dank der Unterstützung ihrer Mütter, Tanten, Großmütter und Schwestern (…).” Dazu Yuli: “(…) Die Idee ist das sumaq kamaña, das gute Zusammenleben, also mehr als das Buen vivir oder der Feminismus in den Gemeinschaften, den andere Frauen entwickelt haben, es ist ein breiterer, vielfältigerer, pluralistischerer und harmonischerer Feminismus, denn das ist es, was wir brauchen: die Vielfalt der Feminismen, die uns in unseren Unterschieden Gemeinsamkeiten finden lässt, die uns vereinen, die uns Kraft geben, in diesem Kampf weiterzumachen. Denn es gibt größere Herausforderungen, den Klimawandel, der auf uns zukommt, die Rückgewinnung unserer Länder, Leben schaffen, statt es zu zerstören, wie es die großen transnationalen Unternehmen getan haben, die die Umwelt verschmutzen, verwüsten und uns, insbesondere die Länder des Südens, zu Unterworfenen und Unterdrückten machen, weil sie unsere Rohstoffe nehmen und uns dann zu Importeuren ihrer Produkte machen. Das ist ein Teufelskreis, der die Veränderungen verhindert, die unsere Länder brauchen. Und wir müssen aufhören, Grenzen zu errichten, das ist wichtig für unsere Völker, für das große Abya Yala und damit für die gesamte Menschheit. Wir brauchen dieses Engagement, das Bewusstsein und den Willen, diese Realitäten zu verändern, egal wo wir sind.”
Marita schließt mit einem Gedicht der Peruanerin María Emilia Cornejo, einer der wichtigsten Stimmen der 70er Jahre, das dem Gedenken an Micaela Bastidas gewidmet ist. Zusammen mit ihrem Mann Tupac Amaru II führte Bastidas die erste große indigene Revolution gegen die Spanier in Peru an.
Ich bin Micaela Katari
Ich bin Micaela Katari
und ich trage in meinem Blut den Schmerz meines Volkes
Mein Gesicht spiegelt
tausend schmerzerfüllte Gesichter
und ich schäme mich nicht
dass mein Fleisch die Farbe der Erde hat
Land des Blutes und des Leids
das mich schmerzt, das uns genommen wird
Fremder, der du mich mit Verachtung betrachtest
Hüte dich vorbeizugehen, wenn die Kinder Perus
dein Schulterklopfen nicht länger akzeptieren,
oder deinen trockenen Weizen
Hüte dich, Fremder mit deinen Abzeichen, deinen Waffen
Hüte dich vorbeizugehen, wenn die Söhne und Töchter Perus
den Kampf aufnehmen.
Eine spanische Version dieses Artikels findest du hier.