Schon vor vier Jahren hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Türkei aufgefordert, den zu Unrecht inhaftierten Kulturförderer Osman Kavala sofort freizugelassen. Nun hat das Oberste Berufungsgericht hat das Urteil gegen den Kavala zu lebenslanger Haft bestätigt. Was folgt daraus?
Von Helmut Ortner
Wie die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu meldete, hat das Oberste Berufungsgericht der Türkei das Urteil gegen den Kulturmäzen und Menschenrechtsaktivisten Osman Kavala zu lebenslanger Haft bestätigt. Der 65-Jährige sitzt seit 2017 im Gefängnis. Mit seiner Stiftung »Anadolu Kültür« hatte sich der Unternehmer, Kunstmäzen und Menschenrechtsaktivist zum Ziel gesetzt, Kunst und Kultur im Land zu fördern. So finanzierte er auch Gruppen, die Tabuthemen aufgreifen, etwa für den Dialog der Volksgruppen im Kurdenkonflikt oder mit den Armeniern eintreten. Für Präsident Erdogan galt er als Staatsfeind. Im April 2022 war er zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe wegen „Umsturzversuchs” im Zusammenhang mit den regierungskritischen Gezi-Protesten im Jahr 2013 in Istanbul verurteilt worden. In seiner Abschlusserklärung vor der Urteilsverkündung, sagte Kavala damals, Trösten könne ihn nur, „wenn das, was ich durchgemacht habe, dazu beitragen würde, schweren Justizfehlern ein Ende zu setzen“.
Das Urteil vom April 2022 Kavala hatte international scharfe Kritik hervorgerufen. Bundeskanzler Olaf Scholz hatte es als „verheerendes Signal für die türkische Zivilgesellschaft“ bezeichnet. Das Urteil sei „ein ungeheuerlicher Missbrauch des Justizsystems“, schrieb Emma Sinclair-Webb, stellvertretende Direktorin von Human Rights Watch Europa und Zentralasien, auf der Plattform X, vormals Twitter. Kulturstaatsministerin Claudia Roth sprach von einem „kafkaesken Verfahren“. Die Verurteilung Kavalas sei ein Schlag gegen die Zivilgesellschaft, sagte die Grünen-Politikerin im Deutschlandfunk und forderte klare und harte Reaktionen von europäischer und deutscher Seite. PEN-Präsident und Journalist Deniz Yücel nannte im Deutschlandfunk das Verfahren „eine reine Farce“.
Das Ministerkomitee des Europarats hatte bereits Dezember 2021 ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet, weil die Türkei das Urteil des Europäischen Gerichtshofs missachtete. Der Chef der oppositionellen CHP, Kemal Kılıçdaroğlu, sprach von einer „Schande“.
Doch die Erdogan-Justiz ist immun gegen Kritik, vor allem dann, wenn sie aus dem Ausland kommt. Der jetzige Richterspruch bedeutet für Kavala, dass sämtliche juristischen Möglichkeiten ausgeschöpft sind, gegen seine Verurteilung anzugehen. Das Urteil erhöht aber auch den Druck auf den Europarat, im Vertragsverletzungsverfahren gegen die Türkei Farbe zu bekennen.
Was folgt nun? „Falls die Regierungen jetzt nicht konsequent handeln”, sagt der SPD-Europaangeordnete Frank Schwabe, Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarats gegenüber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung „wird die Parlamentarische Versammlung der Druck durch ein eigenes Verfahren erhöhen.” Das könnte in letzter Konsequenz sogar zum Ausschluss der Türkei führen. Doch daran glaubt niemand. In der Logik der Realpolitik stoßen Menschenrechtsfragen trotz öffentlicher Bekundungen auf marginales Interesse. Vor allem, wenn es um die Türkei geht. Rechtstaatliche Standards gelten in der Türkei nicht. Eine bittere Tatsache. Das gilt auch für den Fall des mitverurteilten Anwalt Can Atalay, für den das Oberste Berufungsgericht gesondert 18 Jahre Haft wegen Beihilfe bestätigte. Atalay war im Mai zum Abgeordneten gewählt worden, konnte das Gefängnis aber nicht verlassen, um seinen Eid im Parlament abzulegen. Auch dieses Urteil ist eine Schande.