Daniel Goldstein für die Online-Zeitung INFOsperber
«Da wir mit Sklaverei, Sklavenhandel und Kolonialismus nichts zu tun hatten», wären entsprechende Entschädigungen für unser Land «im Prinzip kein Problem», sagte ein Schweizer Delegierter der «Weltwoche» 2001 im Vorfeld einer Uno-Konferenz in Durban gegen Rassismus (vgl. Kasten unten). Er bezog sich damit nur auf die Schweiz als Staat. In jenen Jahren hatte indessen die Schweizer Geschichtsforschung begonnen, die zahlreichen Verwicklungen schweizerischer Siedler, Händler, Industrieller, Forscher, Bankiers und sogar Söldner in die Kolonialherrschaft anderer Länder aufzuarbeiten. Der emeritierte Basler Geschichtsprofessor Georg Kreis legt nun eine Übersicht über diese Arbeiten vor: «Blicke auf die koloniale Schweiz; ein Forschungsbericht» (231 Seiten, Chronos 2023).
Das Buch richtet den Blick zuerst auf die «kolonialgeschichtliche Aufmerksamkeitskonjunktur», skizziert deren Belege chronologisch und ortet den Antrieb dafür nicht nur in der früheren Vernachlässigung oder stark eurozentrischen Betrachtung dieses Aspekts der Schweizer Geschichte. Vielmehr stellt der Autor auch «nichtakademische Voraussetzungen» fest: gestiegenes Interesse an «Ungerechtigkeiten der Vergangenheit» (Verdingkinder, Schweiz im Zweiten Weltkrieg oder Umgang mit der Apartheid in Südafrika); verstärkte Zuwanderung aus ehemaligen Kolonien und daher Notwendigkeit, sich mit Rassismus zu befassen.
«Postkoloniale» Sichtweise
Den meisten neueren Arbeiten liegt ein «postkolonialer» Ansatz zugrunde, der im heutigen Umgang mit dem Weltsüden und den Menschen von dort immer noch eine kolonialistische Haltung sieht: die eigene «zivilisatorische Überlegenheit» rechtfertige eine wirtschaftliche Ausbeutung, die letztlich auch den «Unterlegenen» zugute komme (meine Zusammenfassung). Kreis bedauert, dass aus dieser kritischen Sicht bisher keine «wirklich geteilte gemeinsame Geschichte» der «kolonialen Lebensverhältnisse» entstanden sei, sondern «erneut eurozentrisch» vor allem die eigenen Bewusstseinszustände beleuchtet würden.
Nach seinen Ausführungen zu Wissenschaftstheorie und -geschichte, die im Detail wohl eher Fachleute interessieren, präsentiert der Autor in kurzen Kapiteln ein Panorama der kolonialen Machenschaften, bei denen Schweizer mitwirkten. Zuerst geriet der Sklavenhandel ins Blickfeld, mit einer Studie aus der Universität Lausanne von 2005, die in der deutschen Übersetzung den Titel «Schwarze Geschäfte» trägt; heute wäre die bildliche Gleichsetzung schwarz/übel anstössig. Im gleichen Jahr veröffentlichte Hans Fässler «Reise in Schwarz-Weiss»; zuvor und seither hat er sich in Aufsätzen, Vorträgen und politischen Vorstössen als «dekolonialer Aktivist» (Selbstbezeichnung) profiliert. Er bietet auch Stadtführungen an, vor allem in St. Gallen und Zürich, dieses Jahr zudem erstmals in Aarau.
Lukrativer Dreieckshandel
In diesen Städten lässt sich anhand von Bank- und Fabrikgebäuden sowie Villen der Dreieckshandel illustrieren, mit dem auch Schweizer reich wurden: «Indiennes» – ursprünglich aus Indien, nun mit importierter Baumwolle in Europa hergestellte bunte Stoffe – dienten in Westafrika als «Währung» für den Kauf von Sklaven, die dann nach Nord- und Südamerika inklusive Karibik verschleppt wurden. Dort gab es aus dem Erlös Rohstoffe zu kaufen, u. a. für Schweizer Schokoladefabriken. Neben solchen Geschäften präsentiert Kreis auch Forschungsarbeiten zu Theoretikern, Siedlern, Missionaren und Söldnern aus der Schweiz.
Die Auswanderung wurde zuweilen von lokalen Stellen gefördert (um Arme loszuwerden), doch der Bundesrat lehnte Vorstösse für eidgenössische Siedlungshilfe im 19. Jahrhundert stets ab. Heute sind wiederum lokale Behörden wegen Denkmälern, Museumsgütern, Haus- oder gar Bergnamen «postkolonial» gefordert. Beim Bund gibt es Bemühungen gegen den Rassismus (Kreis präsidierte die damit befasste Kommission) und Geld für Entwicklungsprojekte, das aber eben nicht als «Entschädigung» gesehen werden soll.
Einen parlamentarischen Vorstoss (siehe Kasten unten), die koloniale Vergangenheit aufzuarbeiten, wies der Bundesrat 2003 mit dem Hinweis zurück, die Schweiz sei keine Kolonialmacht gewesen. Zwar habe auch die Schweiz in Durban 2001 die Aufarbeitung als notwendig erachtet, aber dazu reiche die übliche Forschungsförderung. Inzwischen ist tatsächlich eine halbe Bibliothek entstanden. Kreis bietet einen souveränen Überblick (samt 23 Seiten Bibliografie) und in den thematischen Kapiteln anschauliche, gut lesbare Einblicke. «Die» Kolonialgeschichte der Schweiz aber bleibt, darauf aufbauend, noch zu schreiben.
Schweiz hatte mit Sklaverei «nichts zu tun»
Die Äusserung eines Vertreters bei der Uno hat eine unwissenschaftliche Karriere gemacht
2003 begann eine Interpellation der grünen Nationalrätin Pia Hollenstein zur Kolonialgeschichte so: «Noch im September 2001 konnte Jean-Daniel Vigny, der Schweizer Menschenrechtsvertreter bei der Uno, im Zusammenhang mit der Diskussion, welche an der Uno-Konferenz von Durban über afrikanische Entschädigungsforderungen an die Adresse Europas geführt wurde, festhalten, die Schweiz habe ‹mit Sklaverei, Sklavenhandel und Kolonialismus nichts zu tun gehabt›.» Am Zitat stimmte fast alles, nur das Datum nicht: Der «Weltwoche»-Artikel, in dem das Delegationsmitglied Vigny so zitiert wurde, erschien schon am 7. Juni während der Vorbereitungen für die Konferenz vom September.
Damit begann eine Wirkungsgeschichte, die noch anhält: 2020 sagte die Basler Historikerin Tanja Hammel den Tamedia-Zeitungen, Vigny habe diese Haltung an der Konferenz vertreten (21.6.2020, mit Login). Georg Kreis hat nach Belegen für eine solche Äusserung in Durban gesucht, aber keine gefunden – wahrscheinlich, weil es sie nicht gab, sondern nur das vorangegangene Zitat in der «Weltwoche». Dass Vigny an der Konferenz und «als offizielle Stimme der Schweiz» so geredet habe, bezeichnet Kreis kunstvoll als «in der Literatur inzwischen festgeschriebene Annahme». Im weiteren Verlauf des Buchs taucht das Zitat mit unterschiedlicher Verbindlichkeit wiederholt auf.
Schon 2011 veröffentlichte die heutige Berner Professorin Patricia Purtschert in einem Sammelband eine Studie (PDF, mit Gratis-Login), die ganz dem Satz und seiner Nachwirkung gewidmet war. Sie bezeichnete Ort und Zeit als wohlbekannt (well known), nämlich die Konferenz von Durban, um fortzufahren, dort habe Vigny es angeblich gesagt (is supposed to have said). In einem weiteren Sammelband von 2012/13, bei dem Purtschert Mitherausgeberin war, ist dann korrekt die «Weltwoche» zitiert (S. 33, PDF, mit Gratis-Login).
Da ist’s «der Schweiz attestiert worden»
Bei Kreis ist ein Buch von 2004 erwähnt, das die Durban-Konferenz und die «offizielle Erklärung eines schweizerischen Sprechers» anführe. Im Buch selber – Stettler/Haenger/Labhardt: Baumwolle, Sklaven und Kredite – kommt’s auf Seite 20 noch dicker: dass nämlich an der Konferenz «der Schweiz attestiert worden war, ‹mit Sklavenhandel und Kolonialismus nichts zu tun gehabt› zu haben». Da denkt man kaum an ein schweizerisches Selbstattest, vielmehr an einen von der Uno-Konferenz ausgestellten Persilschein.
Ohne den Namen Vigny, dafür mit Platzierung an der Konferenz, steht das Zitat im Vorwort zu «Reise in Schwarz-Weiss»; in «Schwarze Geschäfte» (ebenfalls 2005, beide siehe Haupttext) heisst es auf Seite 9 ohne Zeitangabe: «Der Vertreter der Schweiz in Durban, Jean-Daniel Vigny» habe den fraglichen Satz geäussert (er war laut amtlicher Pressemitteilung Mitglied der Delegation, aber weder Leiter noch Stellvertreter). Eine Quellenangabe fehlt, auch im französischen Original. Unter den zum Kapitel genannten Quellen kommt am ehesten eine Publikation der Bundesverwaltung zu Durban 2001 infrage, aber sie enthält nur Uno-Dokumente und Erläuterungen dazu. Delegationsleiterin Claudia Kaufmann hielt in Durban eine Rede, in der sie die Kolonialgeschichte bloss streifte, ohne Schweizer Bezug.
Aber die angebliche Schweizer Erklärung mit «nichts zu tun» war nun einmal die «festgeschriebene Annahme», und Kreis erwähnt «verschiedene Autoren», die «der Behauptung des schweizerischen Repräsentanten an der Durban-Konferenz» widersprechen. Wie mir der Autor berichtet, hat sich Vigny bei einem Gespräch 2022 nicht an den ihn zitierenden «Weltwoche»-Artikel erinnern können. Fürwahr, eine «petite phrase» mit grosser Wirkung – dank gütiger Hilfe «wissenschaftlicher» Autoren, die an dieser Wirkung stärker interessiert waren als an korrekter Zitierweise. (dg)