Stellen wir uns vor, dass der ökologische Fußabdruck, den wir während unserer irdischen Existenz hinterlassen, eine Datenspur nach sich zöge, die im Archiv des Lebens gespeichert wäre. Dort ließe sich nach unserem Gastspiel ablesen, was wir im Laufe der uns zugestandenen Jahre konsumiert haben.
Angenommen, ein Himmelsbote würde uns schon im Vorhinein verraten, wann wir den Gang alles Irdischen zu gehen haben. Einer erfährt, dass seine Zeit gekommen ist, wenn er weitere 33 Kilo Plastikmüll entsorgt hat. Ein anderer bekommt mitgeteilt, dass ihm noch 789 Liter Benzin zur Verfügung stehen, und wenn die verbraucht sind, ist Schluss auf Erden. Einem Dritten werden 24 Kilo Fleisch zugestanden, bevor er stirbt. Und dem Vierten wird sein Ende vorausgesagt, sobald er auch nur eine Sekunde länger im Internet surft, als 317 Stunden. Das sind keine Drohungen, sondern ein nüchterner Einblick in die Bilanz eines jeden.
Wie würden diese Menschen reagieren? Wie gesagt, sie zweifeln nicht im Geringsten an ihrer inneren Stimme. Ich vermute, dass jeder der vier genannten Personen sein Leben extrem umkrempeln würde. Dass sie dabei einen Entzug zu durchlaufen hätten, gegen den sich das Abnabeln vom Heroin wie eine Fingerübung ausnimmt, ist in dem verzweifelten Versuch, weitere Lebenszeit zu gewinnen, inbegriffen.
Der Autofahrer würde beginnen, seine Fahrten einzuschränken, bis er sich irgendwann selbst ein Fahrverbot erteilt. Aber das Leben ohne Auto wird schwierig. Wie kommt er zur Arbeit? Er wohnt auf dem Land, sein Büro befindet sich in der nächsten Kreisstadt, die nur mit dem Postbus zu erreichen ist, der zweimal täglich verkehrt.
Unser Internet-Surfer begänne, seine Besuche im Netz zu hinterfragen und nach Notwendigkeiten auszurichten. Da er sein Geld als freier Journalist verdient, wird er nicht mehr wie gewohnt recherchieren können, was der Qualität seiner Arbeiten extrem schadet. Schließlich erfindet er seine Geschichten, wird erwischt und nicht mehr beschäftigt.
Beim Fleischesser weiß man nicht, wie er reagieren würde. Er ist süchtig und die Sucht macht es ihm fast unmöglich, von seinen Gewohnheiten zu lassen. Vermutlich würde er seinen Konsum nach der Prophezeiung rauschhaft steigern, um vor dem letzten Schnitzel eine Vollbremsung hinzulegen, was den Fleischverzicht für ihn fortan zur Hölle macht. Das letzte Schnitzel wäre dann eine Art Waffe, die er in der Wäsche versteckt hält und mit der er sein Ende jederzeit selbst bestimmen kann – für den Fall, dass er die Drangsal nicht länger aushält, Krebs bekommt, pleite geht oder von Frau und Kindern verlassen wird.
Am einfachsten scheint es die Person mit der 33-Kilo-Ration Plastikmüll zu haben. Aber das täuscht. Diese Person hat vermutlich die Arschkarte gezogen.
Okay, Jute statt Plastik – null Problemo, sofort umsetzbar. Aber bereits beim Leeren der ersten Jutetasche stellt unser Kandidat fest, was ihm vorher nie gestört hat: dass fast jedes Produkt aus dem Supermarkt eingeschweißt ist, inklusive der zwölf Himbeeren, die er morgens so gerne im Joghurt verrührt.
Aber hatte er nicht neulich von einem alternativen Laden gelesen, in dem Waren pur verkauft werden, ganz ohne Verpackung? Also ab ins Auto, vierzehn Kilometer hin zu der unverpackten Butter, vierzehn Kilometer zurück. Und das fast täglich. REWE, Edeka, Penny, Netto und Konsorten kommen nicht mehr infrage, wenn man sein schnelles Ableben nicht provozieren will.
Wir stecken definitiv in der Plastikfalle. Und 33 Kilo Plastikmüll sind schnell beisammen. Zweifellos haben wir uns in einem System verheddert, das uns sofort an die Gurgel geht, sobald wir auch nur einen Schritt aus ihm heraus treten.
Während sich in diesem Gedankenspiel die vier Probanden noch zu retten vermögen, weil sie, von Angst getrieben, bereit sind, ihr gesamtes Leben neu zu ordnen, scheinen wir als menschliche Gemeinschaft rettungslos verloren. Dabei sind die Menetekel des Untergangs unübersehbar geworden, sie springen uns überall an, wo wir gehen und stehen. It’s written on the wall …
“Wo materieller Fortschritt, wo Eroberungen von ganz äußerlicher Perfektion herrschen, wo all das herrscht, was sich unter Ausschluss jedes inneren Fortschritts auf Bequemlichkeiten stützt, da kann sich echte Kultur nicht mehr entwickeln”, schrieb der französische Dramatiker und Regisseur Antonin Artaud (1). Und er fährt fort: “In dem Maße, wie wir Fortschritte machen und unser Einfluss auf die äußere Natur uns Wüsten beschert, entgeht uns gleichsam der Himmel”.
Der schleichende Ökozid ist nur deshalb möglich geworden, weil sich das Zerstörungswerk auf unendlich viele Schultern verteilt. Jeder Einzelne von uns lädt von der Gesamtlast der alles niederwalzenden Zivilisationslawine allenfalls ein Mikrogramm auf seine Schultern. Diese Minimenge können wir nur schwer in einen katastrophalen globalen Zusammenhang bringen.
Wir kennen die Ausreden, mit denen wir uns Absolution erteilen: SIE SIND SCHULD! Sie weigern sich, den Umweltschutz im Grundgesetz zu verankern. Im Grunde sind sie nur geldgeil. Wie wollen sie die Probleme jemals in den Griff kriegen? Irgendwann ersticken sie in ihrem eigenen Dreck, aber das scheint sie ja nicht zu interessieren. He, Sie da! Haben Sie sie gesehen?
Redaktioneller Hinweis: Das Essay “Sie sind schuld!” von Dirk C. Fleck wurde für Apolut.net erstellt und wurde Neue Debatte vom Autor zur Veröffentlichung zur Verfügung gestellt. Einzelne Absätze wurden eingefügt und hervorgehoben
Quellen und Anmerkungen
(1) Antonin Artaud (1896 bis 1948) war ein französischer Schauspieler, Dramatiker, Regisseur, Zeichner, Dichter und Theater-Theoretiker. Er propagierte eine Idee von einem Theater des Mangels und der Krise, das Theater der Grausamkeit. Text, Sprache und Bewegung sollten auf der Bühne keine suggestive Einheit mehr bilden. Artaud wollte die zentrale Rolle des Textes im Theater mindern und dafür sorgen, dass das Spektakel der Inszenierung, also die Aufführung selbst, in den Vordergrund rückte.