Beinahe gleichzeitig ereigneten sich im vergangenen Juni zwei Schiffsunglücke, die von der Öffentlichkeit als Schiffstragödien wahrgenommen wurden.
1. Eine vorbildliche Seenotrettung informiert die Weltöffentlichkeit
Am 18. Juni um 12 Uhr GMT startet mit 5 Mann an Bord das vom US-Unternehmen OceanGate konstruierte, 6,70 Meter lange Tauchboot Titan im Atlantik, etwa 1500 Kilometer östlich von Boston und 600 Kilometer vor der kanadischen Insel Neufundland entfernt. Zur Erinnerung: der Schiffskutter Adriana mit seinen 750 bis 800 Menschen an Bord schaffte es bis etwa 80 Kilometer vor die griechische Küste.
Der Oceangate-Gründergedanke war, sich eine profitable Geschäftssphäre im Feld der Tiefsee- und Meereserkundung für Abenteurer zu eröffnen und zwar für solche, die es sich leisten konnten, die Summe von 250.000 Dollar pro Kopf und Tauchgang zu bezahlen. Der besondere Reiz des Titan-Tauchgangs: Ein Tauchgang zur legendären, am 12.4.1912 gesunkenen Titanic in 3.800 Meter Tiefe. Um 13:45 bricht aller Kontakt zum Mutterschiff „Polar Prince“ ab, 8 Stunden später, um 21:40 GMt alarmiert die Polar Prince die US-Küstenwache.
Die US-Küstenwache eröffnet eine beispiellose, eine unvergleichliche Seenotrettungs-Aktion mit einem Such- und Rettungsradius 20.000 Quadratkilometer: Eine internationale Rettungsaktion mit einem gigantischen Aufwand an logistischem, materiellem und personellem Einsatz, die 5 Tage lang anhält.1 In jeder Hinsicht hat die US-Küstenwache den Artikel 98 „Pflicht zur Hilfeleistung“ des Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen vom 23.6.1998 erfüllt, wo nicht übererfüllt. Mit ihrem Seenotrettungs-Einsatz hat die US-Küstenwache unter Beweis gestellt, was mit Hilfe modernster Technik in Sachen Seenotrettung heutzutage möglich ist – sofern der Wille zur vorbildlichen Seenotrettung vorhanden ist.
Warum dieser Bilderbuch-Seenotrettungs-Einsatz?
Zum Ersten handelte es sich bei den 5 Mann der Titan nicht um für das US-Staatsinteresse nutzloses, also überflüssiges, also unerwünschtes Menschenmaterial: nicht um rein lästige Störfaktoren, die als Staatshaushalts- und ordnungspolitischer Ballast in den entsprechenden Ghettos der US-Metropolen ihren alltäglichen Überlebenskampf führen und fristen, anstatt als legale Kapital- und Humanressource einen konstruktiven Beitrag zum Gelingen des US-Standortes in der globalen Staaten- und Standortkonkurrenz beizutragen. Für diese Nutzlosen ist zu allerst die Grenzmauer zwischen den USA und Mexiko zuständig. So, wie Frontex; so, wie die Moria-Nachfolger,2 die „Geschlossenen Zentrums mit kontrolliertem Zugang” (Closed Controlled Access Center, CCAC) auf Samos, Kos, Lesvos, Chios, Leros beauftragt sind, die Nutzlosen nicht ins Innere des Schengenraums vordringen zu lassen, nachdem es ihnen unter Lebensgefahr beinahe gelungen ist, den deutsch-europäischen „grossen Strand am Mittelmeer“ (O.Scholz, evang. Kirchentag, 11.6.2023),3 hinter sich zu lassen; so, wie die als „sicher“ definierten Herkunfts-, Transit- und Drittländer nicht zuletzt mit dem Angebot „cash contre migrant“ angehalten und als Zuständige erklärt werden, die nutzlosen Migranten und Flüchtlinge dieser Welt bei sich im Kein zu ersticken, wenigstens bei sich daheim zu behalten.
Die 5 Mann der Titan hingegen sind keine Illegalen, keine Irregulären wie die 800 Flüchtlinge an Bord der Adriana: vielmehr zahlungskräftige wie respektable, in allen modernen Klassengesellschaften geachtete Persönlichkeiten. Lieblingsbürger, die erwiesenermassen oder perspektivisch nützlich sind für den Erfolg der massgeblichen Weltordnungs- und Weltaufsichtsmächte, allen voran der USA. Solche in akute Seenot Geratene sind es wert, verdienen es mit allen nur möglichen Mitteln gerettet zu werden – so die ethisch-sittliche Maxime der abendländischen Wertegemeinschaft, die über alle modernsten technischen Mittel verfügt, beispiellose Seenotrettungen für alle in Seenot Geratenen durchzuführen.
Zum Zweiten bietet die offensichtlich in Seenot geratene Titan die günstige Gelegenheit, vor der ganzen Weltöffentlichkeit anhand einer vorbildlichen Seenotrettung zu demonstrieren, wie sehr die USA und ihre Wertepartner beseelt sind vom Humanismus, hier vom Humanismus wahrer Seenotrettung. Dass es bei diesem Seenotrettungsversuch um 5 Menschenleben geht ist wunderbar zu instrumentalisieren für das schöne Bild, dass es den USA in ihrer humanen Gesinnung überhaupt um jedes einzelne Menschenleben geht. Für dieses schöne Bild lohnt sich die Aufbietung aller nur möglichen Seenotrettungs-Massnahmen vor den Augen einer ehrfürchtig-staunenden Weltöffentlichkeit. Flankiert wird das ganze Unternehmen US-Seenotrettung in ein- und aufdringlicher Weise durch die westlichen Leitmedien: Die sorgen mit ihrer sprichwörtlich hautnahen Bild- und Berichterstattung dafür, dass sich angesichts der anschaulich bebilderten räumlichen Enge in der Titan und der unermesslichen, drohenden Tiefe des Geschehens, Mitempfinden einstellt; allerdings moralisches, parteiliches Mitempfinden für diese in Seenot Geratenen, nicht für die 800 illegalen und irregulären in Seennot geratenen Menschen an Bord der Adriana.
Diese Bedienung und Pflege der westlichen Moralität und des kollektiven westlichen Moralbewusstseins leistet zugleich ein konstruktiven Beitrag zur herrschenden Kriegsmoral in der westlichen Hemisphäre:4 Zeigen doch die USA anhand ihrer Küstenwache, der US Navy, der US National Guard und anhand der synergetisch-interoperablen Einbindung Kanadas, Frankreichs und Grossbritanniens in die Rettungsaktion unter US-Führung, dass die USA im Namen der Menschlichkeit für sogar nur 5 Menschenleben alles zu mobilisieren bereit und in der Lage sind. Das mildert möglicherweise den hier und da auftauchenden hässlichen Gedanken an die ständige US- und NATO- betriebene Ukrainekrieg-Eskalation einschliesslich der frank und frei bekannt gemachten Lieferung von Streubomben an die Ukrainische Führung.
Zum Dritten veranschaulicht der Seenotrettungsversuch gegenüber der implodierten Titan den Willen, die Fähigkeit und den Anspruch der USA, auch im Feld der Seenotrettung Führungsnation Nummer 1 zu sein: und zwar auch angesichts der kommenden Auseinandersetzungen auf den maritimen Schlachtfeldern: sei es in der Arktis-Polarregion, in der Ostsee, im Schwarzen Meer; sei es in der Koreastrasse, im Gelben, im Japanischen Meer, im Indopazifischen Raum mit der Strasse von Taiwan und der Strasse von Malakka, oder im Persischen Golf. Insofern war der Titan-Rettungsversuch eine günstige Gelegenheit, die Hebung von Tauch- oder U-Booten ganz praktisch zu üben und sich, der Weltöffentlichkeit und den konkurrierenden Partner und Rivalen zu beweisen, zu was die USA im maritimen Schlachtfeld prinzipiell zu leisten in der Lage sind: etwa zur Sichtung und Hebung von U-Booten, bevor sie in Feindeshände fallen und geheim gehaltene militärische Spitzentechnologien preisgeben.
In diesem patriotischen Sinne ist der erfolglose Rettungsversuch vorbildlich zu nennen:
The White House thanked the US Coast Guard and international partners for their search and rescue e orts for the submersible that went missing on its way to the Titanic wreckage.
This has been a testament to the skill and professionalism that the men and women who serve our nation continue to demonstrate every single day,“ a White House spokesperson said. (CNN World, June 23.2023)5
Bleibt zusammenfassend die abschliessende Frage zu beantworten: was ist aus den 2 Seenotrettungs-Einsätzen zu ersehen?
2. 2 Lehren aus 2 Seenotrettungen
Darin wissen sich die politischen Entscheidungsträger und Auftraggeber der abendländisch-westliche Wertegemeinschaft in ihrem sittlich-ethischen Selbstbewusstsein und Selbstgefühl einig: Jeder ist es wert und verdient die Seenotrettung, die er verdient. Deshalb sind die beiden getätigten Seenotrettungs-Einsätze im moralischen Selbstverständnis der politischen Entscheidungsträger nur gerecht und der jeweils entsprechenden Aufmerksamkeit würdig. Das ist das Eine. Zum Anderen ist das souveräne „Grenz- und Migrationsmanagement“ den neuen „Herausforderungen“ anzupassen. Grundsätzlich gilt zwar wie immer:
Die Erde ist zu gross für einen hungernden Chinesen, um dorthin zu gelangen, wo es etwas zu essen gibt, zu gross für einen deutschen Landarbeiter, um das Fahrgeld dorthin zu bezahlen, wo er bessere Arbeit findet. Die Erde ist klein. Wem die Mächtigen in den Ländern nicht hold sind, der findet keine Heimat, sie schenken ihm keinen Pass, vor dem ihre Beamten salutieren, und er wird, auf seiner Wanderschaft ertappt, nachts über andere Grenzen geschoben, in Länder, in denen er auch keine Stätte hat. Nirgends ist für ihn Raum. Wenn anständige Leute nachts eine Grenze passieren, geben sie am Abend vorher dem Kontrolleur des Schlafwagens Billet und Pass und äussern den berechtigten Wunsch, bei Kontrolle nicht geweckt zu werden. Gott hat sie lieb. (Max Horkheimer, 1932 )6
Aber angesichts dessen, dass das abendländische „Grenz- und Migrationsmanagement“ inzwischen konstitutiver Bestandteil der bislang geltenden regelbasierten Weltordnung ist, die es im 21. Jahrhundert anzupassen und mehr den je durchzusetzen gilt gegen konkurrierende „Partner und Rivalen“, erweist sich das Asylrecht endgültig als störend und überflüssig:
Früher oder später wird das Asylrecht für politische Flüchtlinge in der Praxis abgeschafft. Es passt nicht in die Gegenwart…Heute, wo das in wenigen Händen konzentrierte Kapital zwar in sich gespalten, aber gegen das Proletariat zur solidarischen und reaktionären Weltmacht geworden ist, wird das Asylrecht immer störender. Es ist überholt… (M. Horkheimer, ebd.: 403)
Zu dem Schluss sind politische Entscheidungsträger in Deutschland nunmehr auch gelangt – abzüglich der unschönen Formulierungen über das Kapital als solidarische und reaktionäre Weltmacht. Doch ist noch eine, wenn auch nicht ganz neue Lehre zu ziehen.
3. Über das Sterben
Der Todeskampf der etwa 700 Männer, Frauen und Kinder, die mit der Adriana untergingen und dem die griechische Küstenwache aus sicherer Entfernung zusah, hielt 15 bis 20 Minuten an. Die im Titan-Tauchboot Eingeschlossenen dagegen hatten tragisches Glück: Das Tauchboot implodierte offensichtlich und zwar in einer Millisekunde, so schnell, dass das Gehirn der 5 Unglücklichen es nicht einmal mehr wahrnehmen konnte. Was heisst:
Alle müssen sterben – gewiss, aber nicht alle sterben gleich. Davon, dass die Reichen ihr Leben mit tausend Mitteln verlängern können, die den Armen nicht zu Gebote stehen, will ich gar nicht reden…Eine einzige Feststellung genügt, um die Ideologie der Unparteilichkeit des Todes ins Wanken zu bringen…Der arme Mann weiss in diesem seinen letzten Teil, dass seine Familie dafür gezüchtigt werden wird, wenn er umkommt…
Was nach dem Tod kommt, weiss ich nicht, aber was vor dem Tod liegt, spielt sich in der kapitalistischen Klassengesellschaft ab. (M. Horkheimer, ebd.: 345)
Da das so ist, hat die US-Küstenwache auch deshalb alles aufgeboten, um wenigstens die sterblichen Überreste der Titan-Besatzung zu bergen. Die sterblichen Überreste der 700 Ertrunkenen hingegen sind es nicht wert und irgendeinen Bergungs-Aufwand ihrer Überreste haben ihre Familien nicht verdient. So ruhen die 700 Ertrunkenen in 5000 Meter Tiefe im Ionischen Meer vor der griechischen Küste.
Und die politischen Entscheidungsträger vertrauen nicht zu Unrecht darauf, dass die Namenlosen ohnehin bald aus dem abendländischen Kollektivgedächtnis getilgt sind – sofern von ihnen überhaupt Notiz genommen wurde.
Fussnoten:
1 Zum näheren Verlauf der 5 Tage-Seenotrettungsaktion vgl. die Timelines unter: https://www.aljazeera.com/news/2023/6/23/titan-sub-timeline-when-did-it-go-missing-and-other-key-events sowie: https://www.t-online.de/nachrichten/panorama/id_100195482/tauchboot-titan-us-kuestenwache-insassen-sind-tot-katastrophale-implosion-.html
2 Zum berühmt-berüchtigen Moria-Lager vgl. M.Henle, 18.9.2020, unter: https://www.telepolis.de/features/Moria-warum-es-war-wie-es-war-4904869.html
4 Vgl. dazu die überzeugende Studie: N.Wohlfahrt/J.Schillo, Deutsche Kriegsmoral auf dem Vormarsch – Lektionen im patriotischen Denken über >westliche Werte>, VSA, Hamburg, besonders: 12-35.
5 Unter: https://edition.cnn.com/americas/live-news/titanic-missing-sub-oceangate-06-22-23/index.html
6 Max Horkheimer, Dämmerung. Notizen aus Deutschland, in: Philosophische Frühschriften 1922-1932, Ges. Schriften Bd.2, Frankfurt/Main, 1987: 324.
Quellen:
G.W. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts [1821], Frankfurt/Main, 1973 ? Max Horkheimer, Dämmerung. Notizen aus Deutschland, in: Philosophische Frühschriften 1922-1932, Ges. Schriften Bd.2, Frankfurt/Main, 1987
N.Wohlfahrt/J.Schillo, Deutsche Kriegsmoral auf dem Vormarsch – Lektionen im patriotischen Denken über westliche Werte, VSA, Hamburg
Internetquellen:
Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen, 23.6.1998: https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=CELEX:21998A0623%2801%29
EU-Kommission, 15.7.2023: https://commission.europa.eu/strategy-and-policy/priorities-2019-2024/promoting-our-european-way-life/new-pact-migration-and-asylum_de
G.Beckstein, 11.7.2000: https://www.welt.de/print-welt/article522532/Weniger-die-uns-ausnuetzen-und-mehr-die-uns-nuetzen.html
EU-Kommission, 23.9.2020, New Pact on Migration and Asylum: https://eur-lex.europa.eu/resource.html?uri=cellar:85ff8b4f-ff13-11ea-b44f-01aa75ed71a1.0002.02/DOC_3&format=PDF
Roter Halbmond rettet mehr als 600 Migranten aus tunesischer Wüste, Zeit online, 13.7.2023: https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2023-07/roter-halbmond-gefluechtete-tunesien
EU-Kommisssion, Tunesien-Deal, 16.7.2023: https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/en/statement_23_3881
Politique du Non-Aceuil en Tunisie – Des acteurs humanitaires au service des politiques sécuritaires européennes, juin 2020: https://www.gisti.org/IMG/pdf/hc_2020_migreurop-ftdes_rapport-tunisie.pdf
Maghreb-Post, 23.3.2023: https://www.maghreb-post.de/algerien-aerzte-ohne-grenzen-prangert-aussetzung-von-fluechtlingen-der-wueste/
German Foreign Policy, Ab in die Wüste II, 10.8.2023: https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9326
EU-Kommission, Juni 2023, Ein stärkeres Europa in der Welt: https://commission.europa.eu/strategy-and-policy/priorities-2019-2024/stronger-europe-world_de
Sophie-Anne Bisiaux, 10.3.2023, „Les politiques migratoires de la France et de l’Union européenne: https://www.lecourrierdelatlas.com/s-a-bisiaux-les-immigres-sont-contributeurs-avant-detre-beneficiaires/
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