Daniel Ellsberg kämpfe bis zum Ende, um vor der Bedrohung von atomaren Kriegen zu warnen und verstarb am 16. Juni 2023. Der 92-jährige Whistleblower hinterließ ein Vermächtnis des Friedens-Aktivismus, das bis hin zu seiner mutigen Veröffentlichung der „Pentagon Papers“ im Jahr 1971 reicht. Könnte sein Engagement angesichts des fortschreitenden Sicherheitsstaates und der schwindenden Friedensbewegung in den heutigen Zeiten des Ukraine Krieges wiederholt werden?
Von Roger Harris
Vom “Verteidigungsspezialisten” zum Friedens-Aktivisten
Daniel Ellsberg startete seine Karriere als brillanter „Verteidigungsintellektueller“ beim Militär und quasi-staatlichen Think Tanks. Er half unter anderem nukleare Erstschläge gegen die damalige Sowjetunion zu planen, mit China als zweitem Angriffsziel. Allerdings realisierte er durch seinen Zugang zu streng geheimen Informationen, dass der Vietnam Krieg nicht zu gewinnen war und die US-Regierung – welch‘ ein Wunder – die Bevölkerung aber anlog, dass sie es könnten und würden.
Ellbergs geopolitischer Standpunkt unterlief einer immensen Veränderung vom Meister des Krieges zum Kämpfer für den Frieden. Das war in den 1960ern und es geschah nicht in Isolation.
1965 erschien Ellsberg dem Vernehmen nach zu seiner ersten Friedens-Demo, noch während er für die RAND Corporation arbeitete. Besonders inspiriert hatte ihn Randy Kehler, ein Wehrdienstverweigerer, der bereit war, für seine Werte ins Gefängnis zu gehen. Im Mai 1971 nahm der zukünftige Whistleblower an einer Massendemonstration gegen den Vietnam-Krieg teil, innerhalb einer „affinity group“ mit bekannten Radikalen wie Howard Zinn und Noam Chomsky.
Könnte ein Analyst, der Zugang zu streng geheimen Informationen hat, auch mit national bekannten Oppositionellen verkehren und an Protesten teilnehmen, die gegen das Militär gerichtet sind, und trotzdem mit den heutigen Bewachungssystemen und Sicherheitsvorkehrungen unentdeckt bleiben? Höchstwahrscheinlich nicht.
Auch eher unwahrscheinlich ist die Auferstehung der politischen Ansichten aus den 60’ern. Die “Rage Against the War Machine”-Demonstration, organisiert hauptsächlich von den Liberalen und „People’s parties“ lockten dieses Jahr am 19. Februar nur ein paar Tausend Menschen nach Washington. Einige Wochen später veranstaltete eine andere Koalition, angeführt von ANSWER, UNAC und anderen, am 18. März eine Anti-Kriegs-Kundgebung mit ähnlich geringer Beteiligung. Seitdem wurde nicht einmal der Versuch unternommen, eine landesweite Demonstration gegen den immer weiter eskalierenden Krieg in der Ukraine zu organisieren.
Pentagon Papers entwendet und veröffentlicht
1969 nahm Ellsberg in seiner Freizeit nicht nur an Anti-Kriegs-Demonstrationen teil, sondern war auch damit beschäftigt, die so genannten Pentagon-Papiere zu kopieren, die die Wahrheit über die imperialen Bestrebungen der USA enthüllen sollten. Ein solches Vorgehen und das Kopieren von 7.000 Seiten hätten zumindest unter den heutigen Sicherheitsvorkehrungen nicht unentdeckt bleiben können.
1970 nahm Ellsberg Kontakt zu wohlgesinnten Senatoren der Demokratischen Partei wie J. William Fulbright, dem Vorsitzenden des Ausschusses für auswärtige Beziehungen, und George McGovern auf. Sie hätten die Papers im Senat veröffentlichen können und wären trotzdem durch Immunität vor Strafverfolgung geschützt gewesen. Sie lehnten dies ab, hielten den Austausch jedoch vertraulich.
Nachdem er die Pentagon-Papiere dem Reporter Neil Sheehan von der New York Times anvertraut hatte, begann die Times am 31. Juni 1971, ohne Ellsbergs vorherige Zustimmung, Auszüge zu veröffentlichen. Ellsberg stellte die Papiere auch der Washington Post und anderen Zeitungen zur Verfügung, die ebenfalls Artikel veröffentlichten.
Während die Times und die Post schon seit langem regierungstreuen Journalismus betreiben, waren die Medien damals noch nicht so die Sprachrohre des Außenministeriums und der Sicherheitsbehörden, wie sie es heute sind.
Anders als Fulbright und vor allem McGovern, die den Vietnamkrieg in Frage stellten, ist heute kein einziger Demokrat gegen einen Krieg in der Ukraine, der immer weiter auf einen nuklearen Austausch zusteuert. Seltsamerweise sind die heutigen Politiker, die im Capitol Hill am ehesten als Friedensaktivisten durchgehen könnten, rechtsextreme Republikaner.
Der Flüchtling Ellsberg
Sobald die Pentagon-Papiere an die Öffentlichkeit gelangten, tauchte Ellsberg unter und löste die größte FBI-Fahndung seit der Lindbergh-Entführung von 1932 aus. Jedoch konnte das FBI ihn nie erwischen. Nach dreizehn Tagen stellte sich Ellsberg freiwillig.
Ein solches Versteckspiel wäre heutzutage unmöglich, da jede unserer Bewegungen von den allgegenwärtigen Überwachungssystemen aufgezeichnet werden. Dem Polizeistaat des 21. Jahrhunderts zu entkommen, ist nicht mehr möglich.
Klage wegen Fehlverhaltens der Regierung abgelehnt
Ellsberg wurde am 3. Januar 1973 vor Gericht gestellt, angeklagt wegen Diebstahls und Verschwörung nach dem Spionagegesetz von 1917. Ihm drohten 115 Jahre Gefangenschaft.
Er verteidigte sich damit, dass die Dokumente illegal klassifiziert worden seien, um sie vor dem amerikanischen Volk und nicht vor einem ausländischen Feind zu schützen. Diese Verteidigung wurde nicht zugelassen.
Die Regierung war damit beschäftigt, Beweise gegen ihn zu sammeln. Agenten des von Nixon regierten Weißen Hauses brachen illegal in das Haus seines Psychiaters ein. Zu den Tätern gehörten G. Gordon Liddy und E. Howard Hunt, die damals nicht gefasst wurden. Doch ein Jahr später wurden die „Klempner“, die Ellsberg festnehmen sollten, in den Watergate-Skandal verwickelt und bekamen ihre wohlverdiente Strafe. Außerdem hörte das FBI Ellsbergs Telefon illegal ab und behauptete dann, dass die Aufnahmen verloren gegangen seien.
Angesichts dieses Fehlverhaltens der Regierung sah sich der von Nixon eingesetzte Richter William Byrne gezwungen, den Fall am 13. Mai 1973 einzustellen. Der Hintergrund war, dass dem Richter während des Prozesses die Leitung des FBI angeboten wurde, die er auch wollte. Jedoch musste er bis zum Abschluss des Prozesses warten, bevor er annehmen durfte.
Ellsberg kam frei und wurde zu einer führenden Stimme für den Frieden. Byrne wurde nie zum Direktor des FBI ernannt.
Wechselnde parteipolitische Ansichten über den Sicherheitsstaat und den Krieg
In der heutigen Zeit, in der moderne Überwachungstechniken zur Verfügung stehen und die NSA die elektronische Kommunikation eines jeden Bürgers erfasst, müsste das FBI nicht mehr abhören, wie es bei Ellsberg der Fall war. Bundesrichter lehnen Fälle von Whistleblowern, die es wagen, sich dem Staat zu widersetzen, nicht mehr unparteiisch ab. So wie Obama, der mehr Whistleblower unter dem Espionage Act strafrechtlich verfolgte als alle vorherigen Präsidenten zusammen.
Umfragen der letzten zehn Jahre zufolge haben sich die Ansichten der Parteien über den wachsenden Überwachungsstaat geändert. Die Mehrheit der Republikaner lehnt den Sicherheitsstaat ab, während die meisten Demokraten ihn befürworten. Ebenso sind die Demokraten die neue Partei des Krieges.
Die Armageddon-liebenden Verrückten im Pentagon dienen nunmehr als beruhigender Gegenpol zum Weißen Haus und den neokonservativen Kriegern im Außenministerium. Verglichen mit Antony Blinken, Jake Sullivan und Victoria Nuland wirken die bösen Buben der Vergangenheit wie Pazifisten.
Nixon und Kissinger hatten sich verschworen, um den sozialistischen Block zu spalten und China gegen die Sowjets auszuspielen. Im Gegensatz dazu macht der derzeitige Schlafwandler im Oval Office Überstunden, um eine Union dieser beiden vermeintlichen Feindstaaten zu schmieden, während er sich auf einen Atomkrieg gegen beide vorbereitet.
Und niemand in offiziellen Kreisen scheint sich auch nur im Geringsten darüber Gedanken zu machen, dass der Frachtzug, der auf die Vernichtung des Planeten zusteuert, einen fatalen Konstruktionsfehler hat: Es gibt keine Bremse.
Wir leben in Zeiten, in denen Leute wie der rechtsextreme Republikaner Tucker Carlson vernünftige Kritik am uneingeschränkten Sicherheitsstaat und an den ständigen Provokationen gegen Russland üben.
Barbara Lee und eine ganze Reihe von einst friedensbewegten Demokraten haben hingegen gelernt, den Krieg zu lieben und sind fast einstimmig für jede militärische Maßnahme im Stellvertreterkrieg an Russlands Grenze. Leider erstreckt sich die Furcht der vermeintlichen Liberalen vor dem Faschismus nicht auf die tatsächlichen Nazis in der Ukraine.
Progressive Demokraten
Wie steht es mit der Strategie der Progressiven, die innerhalb der Demokratischen Partei darum bemüht sind, sie nach links zu bewegen? In der Praxis haben sich Bernie Sanders und die „Squad“ unermüdlich von einem Promi-Ball zum nächsten gearbeitet, um zu beweisen, dass der Begriff „progressive Demokraten“ ein Widerspruch in sich ist. Ja, der Senator aus dem Green Mountain State ist immer noch einen Tick besser als Mitch McConnell. Aber das ist keine sehr hohe Messlatte.
Derselbe Karrierepolitiker aus Vermont, der jetzt deutlich unter dem unerschrockenen Einzelgänger liegt, hatte in günstigeren Zeiten für die Präsidentschaft 2016 und 2020 kandidiert, unter dem Motto, das ganze System sei manipuliert und somit auch die Demokratische Partei. Damit hat er bewiesen, dass der DNC tatsächlich manipuliert wurde. Und dann schloss er sich vorbehaltlos den Demokraten an und schleuste die Bewegung „Our Revolution“ in die Partei ein.
Als die Demokraten die Exekutive, das Repräsentantenhaus und den Senat beherrschten, war das 200-Milliarden-Dollar-Gesundheitspaket von Sanders vom Tisch. Doch als das Repräsentantenhaus an die Republikaner ging, nahm Bernie Sanders die Initiative wieder auf, wohl wissend, dass sie scheitern würde.
Fairerweise muss man sagen, dass die Schuld für den Niedergang des Liberalismus bei seinen Wählern liegt, die vom Gespenst Donald Trump so verstört waren, dass sie alles glaubten, was die Demokraten ihnen erzählten. Sogar ehemals liberale Publikationen wie The Nation bringen Artikel gegen RFK Jr., aus Angst, dass bei den Pro-Forma-Vorwahlen zur Präsidentschaft jemand antreten könnte, der die gängige Denkweise der Partei in Frage stellt.
Derweil sind sie ahnungslos, dass die Amerikaner aus der Arbeiterklasse nicht gerade begeistert sind von weiteren vier Jahren Kamala Harris und ihrem Vize-Kandidaten. Die Spitzenkandidatin der Demokraten hat derzeit eine miserable Zustimmungsrate von 40 %.
Die Kriege in Vietnam und der Ukraine
Die Veröffentlichung der Pentagon Papers enthüllte, dass der Staat sich der Sinnlosigkeit des Vietnam-Krieges bewusst war und böswillig bereit, ihn fortzusetzen – zu einem schrecklichen Preis für die US-Truppen und zu einem noch höheren Preis für das Leben der Vietnamesen. Der Veröffentlichung der Papers wurde eine wachsende Enttäuschung über den imperialen Krieg zugeschrieben.
Saigon „fiel“ zwei Jahre, nachdem Ellsbergs Klage abgelehnt worden war. Am 30. April 1975 schlugen die Vietnamesen den Aggressor auf dem Schlachtfeld erfolgreich zurück. Angesichts der wachsenden Anti-Kriegs-Bewegung und des Widerstands der Truppen war Washington gezwungen, die Niederlage zu akzeptieren.
Jetzt sind die USA in einen weiteren schrecklichen Krieg verwickelt, aber einen Krieg der anderen Art. Der Ukraine-Krieg ist ein Stellvertreterkrieg ohne einen größeren Einsatz von US-Truppen. Ähnlich wie bei den Enthüllungen der Pentagon Papers ist nun aber bekannt, dass:
- – der Krieg in der Ukraine von den USA vorsätzlich provoziert wurde.
- – das Minsker Abkommen ein zynischer Trick war, um Zeit zu gewinnen die Ukraine aufzurüsten.
- – US-Truppen vor Ort stationiert werden.
- – die USA die Absicht haben, sich jeder Friedensverhandlung zu entziehen.
- – der Krieg nicht zu gewinnen ist.
- – es bei dem Gemetzel um die Aufrechterhaltung des Imperiums geht, nicht um die Bewahrung der Demokratie.
Warum haben diese Offenbarungen die Friedensbewegung nicht mobilisiert? Ein Grund dafür sind ihre Verbindungen zu den Demokraten, die sich allesamt in eine Kriegspartei verwandelt haben.
Die Übersetzung aus dem Englischen wurde von Ramsha Tabraiz vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!