„…die himmelschreiende Ungerechtigkeit… Wir erleben eine Zeitenwende. Und das bedeutet: die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor. Im Kern geht es um die Frage, ob Macht das Recht brechen darf…“ Olaf Scholz, 27.02.2022
Ja richtig, es ist wirklich „himmelschreiend ungerecht“ für die Ukrainer. Und es ist grauenhaft und beschämend, dass noch immer nicht, nach Hunderttausenden Toten, ernsthaft über einen Waffenstillstand im Bundestag und in Brüssel diskutiert wird. Der Krieg soll weitergehen, mit immer noch zerstörerischen Waffen, die wohlgemerkt die Ukraine zerstören, der man angeblich helfen will. „Bis zum letzten Blutstropfen„. Aber darüber hinaus: was genau meinte BK Scholz mit der Aussage, es gehe im Kern um die Frage, ob Macht das Recht brechen darf?
Es war eine rhetorische Frage, denn da gibt es eben nichts zu diskutieren (selbstverständlich nicht?!). Aber war das seines Erachtens schon immer so?
Denn da gibt es ein Problem: 1999 war er nicht nur beteiligt an dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der NATO unter Beteiligung der deutschen Bundeswehr im Kosovo, sondern hat aktiv dafür geworben! Er beantwortete also seine jetzt gestellte – rhetorische – Kernfrage damals, denn da war sie noch nicht rhetorisch (!?), und v.a. umgekehrt. Heute: nein, damals: ja! Damals war es für ihn legitim, dass Macht das Recht brechen durfte. Da wurde 2 1/2 Monate lang das Land aus der Luft völlig zerbombt! Und zwar im wahrsten Sinne des Wortes, denn die NATO hatte explizit zivile Ziele im Visier! Der Luftkrieg der NATO war nach einem bestimmten Schema organisiert.
Es gab 1., 2. und 3. Kategorien, wobei die Typen 1 und 2 den militärischen Zielen, die 3.
Kategorie den Zielen der zivilen Infrastruktur (!) entsprach. Da Milošević früh signalisierte, dass er sich der Gewalt der Luftstreitmacht nicht ohne weiteres beugen würde, entschied die NATO relativ bald, eine Eskalation herbeizuführen und auch Ziele der zivilen Infrastruktur anzugreifen.
Für meinen Geschmack kommen die Worte NATO und Eskalation deutlich zu oft im gleichen Satz vor! Sie ist doch angeblich ein Verteidigungsbündnis? Wie definiert die NATO denn Verteidigung? Verteidigung durch Angriffe, Einmischung und Zündeln auf der ganzen Welt?
Müssen jetzt dann unsere Werte auch im Niger verteidigt werden? Also die wertvollen Uranvorkommen, das Gold, das Öl…? Und wie genau erklärt sich diese dauernde Umdeutung der Begriffe – wenn Russland die Ukraine beschießt, dann ist es ein „brutaler, völkerrechtswidriger Angriffskrieg“. Wenn die NATO den Kosovo platt macht, dann ist es ein „operativer Einsatz“ (Plenarprotokoll S. 2423), wenn sie im Niger mit den ECOWAS einen Krieg anzettelt, dann ist es eine „militärische Intervention“. (zur Erinnerung: diesen Begriff haben die Russen letztes Jahr zu Beginn bzgl. der Ukraine verwendet)…
Wenn man also als ursprünglich völlig Unbeteiligter einen Angriffskrieg gezielt gegen eine Zivilbevölkerung eines souveränen Staates durchführte, sollte man sich beim Verurteilen Anderer nicht so weit aus dem Fenster lehnen, zumal ja aktuell ein Angriff im Niger diskutiert wird! Das ist einfach unglaublich, was nehmen sie sich eigentlich heraus?
Wirklich kein Wunder, dass der Rest der Welt die Nase endgültig voll hat von der heuchlerischen, aggressiven und zerstörerischen Politik des Westens respektive der NATO. Wie Gysi das 1999 (s.u. Plenarprotokoll) gesagt hat: „Da geht`s nur um Interessen.“ Um Macht, Einfluss und Reichtum – Menschen sind da nur Mittel zum Zweck, man kann sie ausbeuten, oft stehen sie aber auch im Weg und noch öfter werden sie als Kanonenfutter benutzt. Denn da, wo`s interessant ist, wo was zu holen und auszubeuten ist, wird sich im Zweifel auch militärisch eingemischt.
Ganz nach Goethes Erlkönig: „Bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt!“
Da werden die eigenen Interessen, wenn`s eben „unvermeidlich“ (s.u. Plenarprotokoll) geworden ist, auch mit Gewalt durchgesetzt. Ohne Rücksicht auf Verluste. Auch bzgl. der Streumunition in der Ukraine wurde ja verlautbart, dass man die „Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung“ und die Blindgängerrate „so gering wie möglich halten“ möchte. Implizit also: es gibt „Kollateralschäden, die sind einfach „unvermeidlich“, denn da gibt es höhere Interessen… Das ist alles dermaßen unerträglich, unmenschlich und zerstörerisch – aber sie machen einfach weiter. Niger, Sudan, Syrien, Iran (?), Irak… Wo genau wollen sie eigentlich bzgl. China hin? Es ist eine Farce, eine Frechheit sondergleichen und zum Fremdschämen, wenn bei uns von westlichen Werten gesprochen wird und diese auch noch lautstark in anderen Ländern eingefordert werden.
Sie verteidigen diese Werte mit Gewalt, womit sie sie automatisch aushebeln.
Die Zeitenwende hat viel früher begonnen, auch schon vor dem Kosovokrieg mit der Entscheidung, sich von der Politik des „gemeinsamen Hauses Europa“ zu verabschieden, mit der Entscheidung „Konfrontation statt Kooperation“. Und v.a. Eskalation „wo nötig“ für die eigenen Interessen.
Was wieder dezent verschwiegen wird
Jetzt wollen sie „doch“ (völlig überraschend) Marschflugkörper liefern, „Taurus“, autonome Systeme mit einer Reichweite von bis zu 500 Kilometern. Die Franzosen (Scalp) und die Briten (Storm Shadow) liefern bereits, die Amerikaner liefern wohl auch ihre ATACMS.
Was hier wieder dezent verschwiegen wird: die Taurus sind Luft-Boden-Waffen, unbemannte militärische Lenkflugkörper, die sich selbst ins Ziel steuern und mit einer Gefechtsladung ausgerüstet sind. Sie brauchen Träger, das heißt Tornados, Eurofighter und F 16! Die Scalps und Storm Shadows sind mit den MIG29 kompatibel. Hab` eine ganze Weile gebraucht, bis ich über die Kompatibilität überhaupt etwas finden konnte. Selbst Ben Wallace beantwortete diese Frage nicht, man möchte wohl kein Thema daraus machen? Warum ist das so wichtig? Weil die Ukraine nach Marschflugkörpern fragt, die Jets dazu hat sie anscheinend mittlerweile (Polen lieferte z.B. MIG29)! Und falls nicht, dann ist das eine Forderung nach Jets durch die Hintertür – alle Welt diskutiert über die Marschflugkörper, dabei geht`s um die Kampfjets?
Ich bin absolut kein Waffenexperte, aber ich vermute, dass jetzt alles, was geht an „schweren Waffen“ im Krieg eingesetzt wurde und wird. Bei allen Schritten hieß es erst „nein“, dann „vielleicht“, dann „ja“. Jetzt bleiben nur noch die Atombomben übrig.
Wie haben sie denn das geplant, auch gestaffelt? Erst „kleine“, sog. taktische, die „nur“ eine Stadt mit 500.000 Einwohnern in 1-2 Minuten zerstört? Ich befürchte, dass es dann, sollte es wirklich so weit kommen, völlig egal ist, wie groß die Bombe ist und welche Zerstörungskraft sie hat. Denn diesmal, anders als damals in Japan, wird es eine Antwort geben.
Ist eigentlich irgendwem aufgefallen, dass es zum ersten Mal seit 1947 (außerhalb der Friedensbewegung) in Deutschland keine Berichte über das Hiroshimagedenken gab? In ganz Deutschland fanden Gedenkveranstaltungen statt, es ist so wichtig wie noch nie, aber es wird verschwiegen? Was haben sich die Verantwortlichen in den Redaktionen dieses Jahr dabei gedacht? Nur keine Sorgen auslösen, das könnte ja dazu führen, dass es einen Aufschrei in der Gesellschaft gäbe, die unsere Regierung zur Besinnung aufrufen könnte? Das Alles ist einfach nicht mehr rational nachvollziehbar, denn es ist so dermaßen selbstzerstörerisch, unverantwortlich und unlogisch, dass es zum Himmel schreit. Ja richtig, BK Scholz.
Ausschnitte aus dem Plenarprotokoll 14/30 | Deutscher Bundestag
(Stenographischer Bericht | 30. Sitzung | Bonn, Donnerstag, den 25. März 1999)
„Ich will darauf hinweisen, meine Damen und Herren, dass wir uns mitten in einem operativen Einsatz, in einer laufenden Operation befinden…“, Wilhelm Schmidt, SPD
Zwischenruf Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: „Im Krieg befinden wir uns, im Angriffskrieg!…
Das ist ungeheuerlich. Ich verstehe meine Fraktion nicht, die für mehr Frieden in der Welt angetreten ist, die eine Friedenspolitik machen will. Von deutschem Boden sind die Tornados gestartet, die jetzt gerade Belgrad bombardieren. Ich schäme mich für mein Land, das jetzt wieder im Kosovo Krieg führt und das wieder Bomben auf Belgrad wirft.“
„…wenn wir unsere Verantwortung für Frieden, für Freiheit und für Menschenrechte ernst nehmen, haben wir keine Alternative. Deswegen muss unser geschlossener Appell an den Aggressor lauten: Das Morden in Europa muss aufhören!“ Dr. Wolfgang Schäuble, CDU/CSU Anm.: Kein Krieg ist unvermeidlich, schon gleich gar kein Angriffskrieg, es gibt immer eine Alternative und: der Aggressor war die NATO, die brutal und völkerrechtswidrig massenhaft Zivilisten bombardierte!
„Ich hoffe, dass diejenigen, die uns oder mich persönlich, wie in den letzten Tagen geschehen, als Kriegstreiber bezeichnen, endlich die Antwort auf die Frage geben, was denn die Alternative zu dieser schwierigen Entscheidung gewesen wäre… Ich hoffe, dass wir auch danach noch sagen können, dass es das Richtige (sic!) war, dem wir gestern und heute zugestimmt haben.“ Angelika Beer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Gregor Gysi, PDS : „…Sie alle wissen, dass die UN-Charta nur zwei Fälle des berechtigten militärischen Eingreifens kennt. Beide Voraussetzungen liegen nicht vor. Sie wissen genauso gut wie ich, dass der UN-Sicherheitsrat keine militärischen Maßnahmen nach Kap. VII der UN-Charta… beschlossen hat und dass er sich sogar ausdrücklich vorbehalten hat, über die weitere Situation zu beraten und zu entscheiden. Die NATO hat ihm diese Entscheidung aus der Hand genommen; sie hat sich damit von der UNO abgekoppelt. Ich sage Ihnen: Das zerstört eine Weltordnung.
Wenn man einen Krieg führt, ohne selbst angegriffen worden zu sein, dann ist das ein Angriffskrieg und kein Verteidigungskrieg. Genau diesen verbietet das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Auch dagegen haben Sie verstoßen. Ich erinnere Sie an ein noch viel verbrecherischeres Regime, an das Pol-Pot-Regime. Damals griff Vietnam ein. Das wurde international mit dem Hinweis darauf verurteilt, dass sich das kambodschanische Volk selbst befreien müsse, solange Kambodscha keinen anderen Staat angegriffen habe… Als der US- Präsident vor kurzem im Senat seines eigenen Landes gefragt worden ist, warum die NATO nicht in Kaschmir oder in Burundi militärisch eingreife, sondern gerade im Kosovo, hat er geantwortet: „Dort haben wir andere Interessen.“ Das ist eine Begründung, die mit Moral nichts zu tun hat. Wenn Menschenrechte gelten sollen, dann müssen sie universal gelten…“
Helmut Scheben, „Militärputsch in Niger: Rückschlag für die USA“: „…Unbestreitbar gibt es all diese Übel [Dürren, Überschwemmungen…] im Sahel, und es gibt eine Zunahme radikalislamischer Terrorangriffe. Diese haben sich aber nicht irgendwie und quasi als Naturkatastrophe „ereignet“, sondern sind zu einem guten Teil logische Folgen einer Politik der militärischen Aggression, die der Westen als Problemlösung verkauft. Der Nato-Angriff auf Libyen hatte eine brutale Destabilisierung der gesamten Region nach sich gezogen…
Fast 22 Jahre nach den Anschlägen im September 2001 wird immer noch „Krieg gegen den Terror“ geführt. Und die westlichen Eliten und ihre Medien zeigen sich jedes Mal erstaunt, wenn es wieder ein Land gibt, welches nicht mehr mitmachen will.“
Gerhard Schröder, 2014: „Aber wissen Sie, warum ich ein bisschen vorsichtiger bin mit dem erhobenen Zeigefinger? Weil ich`s nämlich selbst gemacht habe.“ Was haben Sie gemacht? „Gegen das Völkerrecht verstoßen! Ebenso, ich hab` wenig gehört von Kritik, als es im Irak so war…“
Soviel zu den Interessen bzw. zur Doppelmoral. Und zum erhobenen Zeigefinger.
Text von Tanja Stopper, erschienen am 12.08.2023 auf friedenunddiplomatie.de.