Die deutsche Luftwaffe übt schnelles Verlegen in die strategisch bedeutende Arktisregion – und untermauert den Anspruch Berlins, in einem etwaigen Großmächtekrieg an vorderster Front dabei zu sein.
Die Bundeswehr bildet zurzeit über Island deutsche Piloten aus, um im Kriegsfall an vorderster Front fliegen zu können. Noch bis Donnerstag werden deutsche Kampfjets dazu mehrmals täglich von der geostrategisch bedeutenden Insel zwischen arktischen Ressourcen und atlantischen Verbindungslinien abheben. Berlin demonstriert mit der Übung („Rapid Viking 2023“) seine sogenannten First Responder-Fähigkeiten. Das deutsche Manöver hat im Vergleich zu multinationalen Übungen der NATO einen vergleichsweise geringen Umfang: Statt tausenden oder gar zehntausenden Soldaten mit hunderten Flugzeugen nehmen lediglich 30 Soldaten mit sechs Eurofightern teil. Dies allerdings ergibt sich aus dem Ziel der Übung: mit wenig Waffen und Soldaten so schnell wie möglich zu verlegen und vor Ort eine größtmögliche Wirkung zu erzielen; „First Responder“ sind diejenigen, die im Konfliktfall als allererste vor Ort sind und eingreifen. Der Aufmarsch hunderttausender Soldaten mit schwerem Gerät folgt erst danach. Mit Übungen wie Rapid Viking positioniert sich Berlin in den NATO-Kriegsplänen an vorderster Front.
Rapid Viking 2023
Im Vergleich zu den seit 2014 zunehmenden multinationalen Manövern des NATO-Blocks mit teilweise mehreren zehntausend Soldaten ist die deutsche Übung Rapid Viking 2023 ein kleines Manöver. Für die laufende zweiwöchige Übung hat Berlin sechs Eurofighter, 30 Bundeswehrsoldaten und zwei A400M-Transportflugzeuge mit insgesamt 25 Tonnen Material nach Island verlegt. Ziel sei es, heißt es bei der Bundeswehr, „mit möglichst geringen personellen und materiellen Ressourcen einen maximalen operationellen Footprint zu erzielen“.[1] Deutschland trainiert und demonstriert damit seine sogenannten First Responder-Fähigkeiten. „First Responder“ („Ersthelfer“) sind diejenigen Kräfte, die im Konfliktfall als erste vor Ort sind und Maßnahmen ergreifen, bevor dann die Hauptkräfte eintreffen. Um im militärischen Kontext in der Lage zu sein, als erste reagieren zu können, sind kurze Reaktions- und damit Verlegezeiten unerlässlich. Abflugbereit nach Island waren die beteiligten Soldaten nach eigenen Angaben nach zwei Tagen Packen – allerdings mit einer Vorbereitungszeit von neun Monaten. Käme es zu einer Krise oder einem Krieg, dann falle der Großteil der administrativen und bürokratischen Hemmnisse weg und es gälten „ganz andere Vorschriften“, erklärt der Kommandoführer des Manövers: „Da fliege ich einfach los“.[2]
Ganz vorne mit dabei
Noch bis Donnerstag führen die deutschen Piloten im Rahmen von Rapid Viking 2023 mehrmals täglich Übungsflüge im isländischen Luftraum durch. Der zivile Luftverkehr wird laut Bundeswehr um die für das deutsche Militär bereitgehaltenen Zonen „herumgelenkt“.[3] Die Bundeswehr nutzt das Manöver nach eigenen Angaben nicht nur, um eine „strategische Message“ zu senden, sondern auch, um ihre Luftwaffenpiloten auszubilden.[4] Vor der erfolgreichen Ausbildung in Island seien die teilnehmenden Bundeswehrpiloten nur „beschränkt kriegsfähig“ gewesen, heißt es: Sie könnten zwar „in den Krieg ziehen“, seien dann aber „nicht ganz vorne mit dabei“. Bei Rapid Viking lernten die deutschen Soldaten, „vorneweg zu fliegen“.[5]
Militarisierung der Arktis
In ihren Arktisleitlinien verschreibt sich die Bundesregierung der internationalen Kooperation und dem Erhalt einer konfliktfreien Arktis in Zeiten der globalen Großmachtkonkurrenz.[6] Das hält Berlin jedoch nicht davon ab, militärisch in der Region aktiv zu werden. Bereits im Mai dieses Jahres hatte die Bundeswehr sich an der Übung „Arctic Challenge“ beteiligt. Damals trainierte die deutsche Luftwaffe mit ihren Partnern den Luftkrieg über dem Norden Skandinaviens – teilweise kaum mehr als 100 Kilometer Luftlinie von der russischen Grenze entfernt.[7] Mit Manövern wie Arctic Challenge baut die NATO ihre Interoperabilität aus: Die Truppen und die Waffensysteme der einzelnen Mitglied- und Partnerstaaten werden zu einer geeint handlungsfähigen Bündnisarmee verschmolzen. An Arctic Challenge 2023 beteiligten sich die NATO-Staaten mit insgesamt 150 Flugzeugen. Das sind fast doppelt so viele wie bei der vorigen Arctic Challenge-Übung, die im Jahr 2021 stattfand und damit noch vor dem Ukraine-Krieg.
Dünnes Eis
Sich verschärfende Großmachtrivalitäten und der Klimawandel haben die Arktis wieder in den Fokus von Militärs und Strategen gerückt, die bei ihren Planungen längst fest mit dem Abschmelzen des arktischen Eises rechnen. Bereits heute zeichnet sich ein Wettrennen um das Erschließen der noch vom Eis bedeckten Ressourcen ab. Darüber hinaus könnten freiwerdende arktische Schifffahrtsrouten das internationale Kräfteverhältnis zugunsten Russlands verschieben (german-foreign-policy.com berichtete [8]). Aber auch ohne Klimawandel kommt insbesondere der sogenannten GIUK-Lücke im Konflikt zwischen den NATO-Staaten und Russland eine militärstrategische Bedeutung zu. Mit GIUK-Lücke ist das Gebiet zwischen Grönland (G), Island (I) und Großbritannien (UK) gemeint. Bei ihm handelt es sich um eine Art Nadelöhr, das die russische Nordflotte durchqueren müsste, wollte sie aus ihren Heimathäfen im russischen Nordmeer in den Atlantik einfahren. Würde dieses Seegebiet abgeriegelt, wäre ihr Zugang zum Atlantik gekappt – und damit wären die NATO-Verbindungslinien aus Nordamerika nach Europa abgesichert; womöglich hunderttausende Soldaten könnten über den Atlantik an einen Kriegsschauplatz in Europa verlegt werden.[9] Island kommt dabei eine Schlüsselrolle zu; zudem dient das Land als Sprungbrett der NATO in die Arktis.
An vorderster Front
Als Demonstration von „First Responder“-Fähigkeiten hat Rapid Viking 2023 für Berlin eine Bedeutung über die Arktisregion hinaus. Vergleichbare Manöver hält die Bundesrepublik auch in weiteren Weltregionen ab, zuletzt unter anderem in Estland und in Australien.[10] Käme es zu einem offenen Krieg zwischen der NATO und Russland oder China, wäre Deutschland in einer „First Responder“-Funktion eines der ersten Länder, das ganz real in die Kämpfe eintreten würde. Es befände sich demnach etwa im direkten Krieg mit Russland, noch bevor die transatlantischen Nachschubtruppen Europa erreichten.
[1] Rapid Viking 2023. bundeswehr.de.
[2] Der Kommandoführer im Interview. bundeswehr.de 01.08.2023.
[3] Interview mit dem Einsatzführungsoffizier. bundeswehr.de 03.08.2023.
[4], [5] Der Kommandoführer im Interview. bundeswehr.de 01.08.2023.
[6] Leitlinien deutscher Arktispolitik. auswaertiges-amt.de August 2019.
[7], [8] S. dazu Die Geopolitik des Klimawandels.
[9] S. dazu Testmobilmachung gen Osten, Am Rande des Krieges (III) und Der Gipfel von Vilnius.
[10] German Air Force rushes to Iceland in ‘Rapid Viking’ drill. defensenews.com 28.07.2023.