Dutzende Flüchtlinge sind nach ihrer Deportation durch tunesische Behörden in die Wüste verdurstet. Während die ersten starben, schloss „Team Europe“ (von der Leyen) mit Tunis einen Flüchtlingsabwehrdeal.

Menschenrechtsorganisationen erheben schwere Vorwürfe gegen die EU-Kooperation mit Tunesien zur Flüchtlingsabwehr. Auslöser ist ein Deal, den ein Politikertrio um Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen („Team Europe“) am 16. Juli mit Tunis schloss, um die Flucht aus Nordafrika nach Europa noch stärker zu erschweren. Kurz zuvor hatten die tunesischen Behörden 1.200 Menschen aus Ländern Afrikas südlich der Sahara in ein Wüstengebiet an der tunesisch-libyschen Grenze deportiert und sie dort schutzlos ausgesetzt; während „Team Europe“ mit Tunesiens Präsident Kaïs Saïed zusammenkam, um weitere Schritte zur Flüchtlingsabwehr in die Wege zu leiten, verdursteten die ersten von ihnen. Bisher wurden 27 Leichen gefunden. Die EU habe sich mit dem Deal zur „Komplizin“ tunesischer Verbrechen an Flüchtlingen gemacht, konstatiert das Forum Tunisien pour les Droits Économiques et Sociaux (FTDES). Bereits vor Jahren hat Brüssel mit dem damaligen nigrischen Innenminister Mohamed Bazoum Schritte vereinbart, die Flüchtlinge auf dem Weg durch die Sahara nach Norden auf abgelegene, gefährlichere Routen abdrängten. Dies kostete zahllose Flüchtlinge das Leben.

„Team Europe“ und die Menschenrechte

Der Flüchtlingsabwehrdeal, den EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni und ihr niederländischer Amtskollege Mark Rutte („Team Europe“) am 16. Juli in Tunis unterzeichneten (german-foreign-policy.com berichtete [1]), ist unmittelbar auf massive Kritik von Menschenrechtsorganisationen gestoßen. Faktisch billige die EU damit die Schritte, die die tunesischen Behörden in den vergangenen Monaten gegen Flüchtlinge aus den Ländern Afrikas südlich der Sahara eingeleitet hätten, konstatierten nur wenige Tage danach das Forum Tunisien pour les Droits Économiques et Sociaux (FTDES), die Avocats Sans Frontières (ASF), Action Aid, EuroMed Rights und weitere Organisationen.[2] Die tunesischen Behörden hatten nach einer zutiefst rassistischen Rede von Präsident Kaïs Saïed [3] begonnen, mit Razzien, Festnahmen und Abschiebungen gegen Personen aus Subsahara-Afrika vorzugehen, wobei sie brutale Gewalt anwandten und nicht nur Personen ohne regulären Aufenthaltsstatus, sondern auch offiziell anerkannte Flüchtlinge und Studierende attackierten. Dies geschah vor dem Hintergrund rassistischer, zum Teil pogromartig eskalierender Gewalt aus der tunesischen Bevölkerung; Beobachter sprachen von einer „Jagd auf Migranten“.[4]

Im Niemandsland verdurstet

Mittlerweile beginnt das mörderische Ausmaß der tunesischen Maßnahmen deutlich zu werden, deren Billigung sich die EU vorwerfen lassen muss. Kurz vor dem Eintreffen von „Team Europe“ zur Unterschrift unter den Flüchtlingsabwehrdeal am 16. Juli war bekannt geworden, dass die tunesischen Behörden zahlreiche Menschen aus den Ländern Afrikas südlich der Sahara in ein Wüstengebiet an der Grenze zwischen Tunesien und Libyen deportiert und dort schutzlos ausgesetzt hatten – in sengender Hitze von bis zu 50 Grad Celsius, ohne Wasser und Lebensmittel; Mobiltelefone wurden den Opfern abgenommen (german-foreign-policy.com berichtete [5]). Insgesamt waren laut Berichten rund 1.200 Menschen betroffen. Weitere 500 sollen in die Wüste an der tunesisch-algerischen Grenze deportiert worden sein. Mittlerweile ist bekannt, dass an der Grenze zu Libyen ausgesetzte Flüchtlinge, unter ihnen Kleinkinder, verdursteten, während „Team Europe“ am 16. Juli in Tunis einen Deal über effizientere Maßnahmen gegen Flüchtlinge schloss.[6] Bis heute wurden 27 Leichen gefunden. Weiterhin sitzen laut Angaben von Menschenrechtlern rund 200 Menschen in der Wüste fest. Der Libysche Rote Halbmond sucht sie notdürftig zu versorgen. Zivilisten haben keinerlei Zugang zu dem Gebiet.

Schutzlos ausgesetzt

Dass Flüchtlinge von den nordafrikanischen Küstenstaaten in die Wüste deportiert werden, ist nicht neu und auch in Europa seit langem bekannt. Bereits vor knapp zwei Jahrzehnten wurde berichtet, Marokko habe soeben rund 500 Flüchtlinge ohne Nahrung an der Grenze zu Algerien ausgesetzt und sogar mehr als tausend Flüchtlinge in Handfesseln an die Grenze der besetzten Westsahara zu Mauretanien verschleppt.[7] Derlei geschieht immer wieder. So zwangen zwischen Juli und Anfang September 2018 die marokkanischen Behörden rund 5.000 Flüchtlinge in Busse, fuhren sie in abgelegene Wüstengebiete an den Landesgrenzen zu Algerien oder Mauretanien und setzten sie dort aus.[8] Algerien hat seit Jahresbeginn, soweit bekannt, wohl rund 20.000 Flüchtlinge an die Wüstengrenze zu Niger deportiert und sie in relativer Nähe zu dem nigrischen Grenzort Assamakka ihrem Schicksal überlassen.[9] Bereits im März berichtete die Organisation Médecins Sans Frontières (MSF), alleine vom 11. Januar bis zum 3. März hätten 4.677 Flüchtlinge den Fußmarsch von der Grenze nach Assamakka geschafft; dort hätten freilich weniger als 15 Prozent von ihnen eine Unterkunft gefunden, die übrigen müssten im Freien dahinvegetieren.[10] Ähnliche Fälle sind auch aus Libyen bekannt.

Auf Druck der EU

Hindert all dies die EU und ihre Mitgliedstaaten nicht, mit den Staaten Nordafrikas in puncto Flüchtlingsabwehr eng zu kooperieren, so tragen Maßnahmen, die die EU vor Jahren in Niger durchgesetzt hat, zum Flüchtlingssterben in der Wüste bei. Dabei ging es um den Versuch, die Fluchtwege durch die Sahara in Richtung Norden abzuschotten. Einer der geographischen Schwerpunkte war die nordnigrische Stadt Agadez, ein zentraler Transitort auf dem Weg nach Libyen oder Algerien. Architekt der Maßnahmen, die Niamey auf massiven Druck der EU traf, um Agadez als Transitort auszuschalten, war der damalige nigrische Innenminister Mohamed Bazoum. Dieser setzte mit aller Härte ein – auf Druck der EU verabschiedetes – Gesetz durch, das die Busreise aus Niamey nach Agadez im Namen der Abwehr angeblich illegaler Migration sehr erschwerte; dabei wurden sogar Einwohner Senegals, Malis, der Côte d’Ivoire oder Nigerias massiven Schikanen ausgesetzt oder sogar ganz an der Fahrt nach Agadez gehindert, obwohl ihnen als Bürgern eines ECOWAS-Staats Reisefreiheit auf dem Territorium sämtlicher ECOWAS-Mitglieder zustand.[11] Mit Maßnahmen wie diesen gelang es in der Tat, die Zahl der Personen, die nach Agadez reisten, innerhalb kurzer Zeit drastisch zu reduzieren.

Absehbare Opfer

Die von der EU erzwungenen, vom nigrischen Innenminister Bazoum loyal umgesetzten Maßnahmen haben die vom Reiseverkehr abhängige Wirtschaft in Agadez schwer geschädigt. Ersatzprogramme, die die EU versprochen hatte, erfüllten die Erwartungen nicht.[12] Die Fluchtwege in Richtung Norden wurden allerdings nicht ausgetrocknet, sondern – dies hatten Kritiker vorausgesagt – lediglich weiter in die Illegalität verschoben. Das hatte zur Folge, dass die Flüchtlinge – auch dies war vorab prognostiziert worden [13] – auf gefährlichere Routen in abgelegeneren Wüstengebieten ausweichen mussten, um nicht von Bazoums Repressionskräften aufgegriffen zu werden. Dort ist das Risiko, im Wüstensand steckenzubleiben oder auf völlig ungesicherten Wegen von der Lkw- oder Pickup-Ladefläche zu fallen, erheblich größer, zugleich aber die Chance, von anderen Reisegruppen entdeckt und gerettet zu werden, erheblich geringer. Entsprechend stieg die Zahl der Personen, die auf dem Weg durch die Sahara ums Leben kamen, massiv an. Laut Angaben der International Organization for Migration (IOM) sind seit 2014 mindestens 5.600 Menschen auf dem Weg durch die Sahara gestorben oder verschwunden.[14] Mit einer deutlich größeren Dunkelziffer wird gerechnet.


[1] S. dazu Ab in die Wüste.
[2] Mémorandum UE-Tunisie : l’Union européenne approuve les rafles, les expulsions illégales et la violence à l‘encontre des migrants. ftdes.net 20.07.2023.
[3] S. dazu Sperrriegel gegen Flüchtlinge.
[4], [5] S. dazu Sperrriegel gegen Flüchtlinge (II).
[6] Ricard González: Dying of hunger and thirst in the desert after being expelled from Tunisia. english.elpais.com 05.08.2023.
[7] Giles Tremlett: Morocco criticised for dumping migrants in desert without food. theguardian.com 11.10.2005.
[8] S. dazu Flüchtlinge als Spielball.
[9] Frédéric Bobin: L’Algérie se pose en médiateur dans la crise nigérienne. lemonde.fr 09.08.2023.
[10] MSF condemns appalling conditions for migrants abandoned in Assamakka. msf.org 16.03.2023.
[11] S. dazu In die Rebellion getrieben.
[12] Frédéric Bobin: Au Niger, l’incertitude politique pèse sur la stratégie migratoire de l’Europe. lemonde.fr 08.08.2023.
[13] S. dazu In die Rebellion getrieben.
[14] Frédéric Bobin: Au Niger, l’incertitude politique pèse sur la stratégie migratoire de l’Europe. lemonde.fr 08.08.2023.

Der Originalartikel kann hier besucht werden