Amalia van Gent für die Online-Zeitung INFOsperber
Der Artikel wurde am 22. August 2023 — nach Abschluss der Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrats — aktualisiert.
Der Appell türkischer Intellektueller am 16. August 2023 richtete sich in erster Linie an ihre internationalen Kollegen: Die Blockade, die «das Regime in Baku mit der Unterstützung Ankaras seit Monaten gegen das armenische Volk von Bergkarabach» verhängt habe, «beschwört die Gefahr eines Völkermords herauf», heisst es in ihrem Aufruf. Seit Monaten ignoriere das Regime in der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku jede Aufforderung der Vereinten Nationen, der Institutionen der Europäischen Union und des Europarats nach einer Aufhebung seiner Blockade, bestreite gar, dass es überhaupt eine Blockade gebe. «Dabei weiss jeder, dass seit Monaten keine lebenswichtigen Güter mehr nach Bergkarabach gelangen.»
Die Intellektuellen aus der Türkei sind empört darüber, dass die internationale Öffentlichkeit auf die alarmierende Notlage in Bergkarabach bislang nicht «sensibel genug» reagiert habe. Sie mahnen die Weltgemeinde, in Bergkarabach «unmittelbar mit aktiven Initiativen» zu intervenieren – oder einen neuen Völkermord in Kauf zu nehmen. Aufgabe der internationalen Gemeinschaft sei es, «Völkermorde zu verhindern und nicht so lange abzuwarten, bis ein solch grauenhaftes Verbrechen passiert, um dann zu intervenieren.»
Zahlreiche Schriftsteller, Politiker, Rechtswissenschaftler und Menschenrechtsaktivisten der Türkei haben den Aufruf für Karabach unterzeichnet. Viele von ihnen sind bekannte Wissenschaftler und wissen, wovon sie sprechen: Der Historiker Taner Akçam etwa ist einer der ersten türkischen Akademiker, der den Genozid an den Armeniern durch die Osmanen 1915 eingehend erforscht und öffentlich thematisiert hat. Er gilt nicht nur in seiner Heimat als Autorität in dieser Frage. Der renommierte Politologe Baskin Oran war Berater der ersten Regierungen Erdoğans in Fragen ethnischer und religiöser Minderheiten in der Türkei und als solcher ein guter Kenner dieser Materie. Und die in der Türkei verfolgte Autorin Aslı Erdoğan dürfte instinktiv spüren, wie die seit Jahren von der Regierung bewusst angeheizte, ultranationalistische Stimmung die Gesellschaft mittlerweile empfänglich gemacht hat für jede Art von Gewalt gegenüber den «Anderen».
Die Furcht, dass sich in Bergkarabach die Geschichte, wenn auch in kleinerem Mass, wiederholen könnte, verbindet sie alle. Zwischen 1915 und 1917 sind weit über eine Million Armenier auf den von den damals regierenden Jungtürken verordneten Todesmärschen verendet und die jahrtausendealte armenische Kultur Anatoliens wurde mit einem Schlag ausgelöscht.
Wie mit der drohenden humanitären Krise umgehen?
Alarmierend hört sich auch der Völkerrechtsexperte Luis Moreno Ocampo an. Der Argentinier, der Anfang der 2000er Jahre für ein Jahrzehnt Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs war, spricht von einem «anhaltenden Genozid an den 120’000 Armeniern von Bergkarabach». Nicht Krematorien und auch keine Macheten seien im Einsatz, schreibt er in seinem Expertenbericht, der am 7. August 2023 veröffentlicht wurde. «Hunger ist diesmal die unsichtbare Waffe eines Völkermords.»
Wie Luis Moreno Ocampo in seinem Bericht ausführt, habe der Internationale Gerichtshof im Fall Srebrenica während des Bosnienkriegs den «Entzug von Nahrung, medizinischer Versorgung, Unterkunft oder Kleidung» als Akt eines Genozids im Sinne von Artikel II (c) der Völkermordkonvention definiert. Auch er mahnt die Weltgemeinschaft, dringend Massnahmen zu ergreifen. «Wenn sich in Bergkarabach nicht sofort etwas ganz dramatisch ändert, wird diese Volksgruppe von Armeniern in wenigen Wochen vernichtet sein.»
Am 8. August 2023 forderte eine Gruppe von Experten der Vereinten Nationen (UN) Aserbeidschan nachdrücklich auf, den uneingeschränkten und sicheren Personen-, Fahrzeug- und Warenverkehr entlang des Latschin-Korridors in beiden Richtungen wiederherzustellen. «Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die Sicherheit, die Würde und das Wohlergehen aller Menschen in dieser kritischen Zeit gewährleistet werden», so die Experten.
«Totale Belagerung»: Kein Kilogramm Nahrung kommt mehr durch
Seit dem 12. Dezember 2022 hat Aserbeidschan die Hauptverkehrsachse über den sogenannten Latschin-Korridor, die Bergkarabach mit Armenien und der Aussenwelt verbindet, blockieren lassen. Ein akuter Mangel an Grundnahrungsmitteln, Medikamenten und Hygieneartikeln machte sich in diesem geografisch isolierten Gebiet breit. Noch konnten, wenn auch vereinzelt, russische Friedenstruppen und das IKRK das Gebiet zumindest mit Medizin versorgen. Seit dem 15. Juni 2023 wurde diese Lebensader für Bergkarabach aber vollständig abgeriegelt. Seither kommt kein Kilogramm von Nahrungsmitteln, Medikamenten oder Treibstoff durch. Die Armenier sprechen von einer «totalen Belagerung».
Hungernde Kinder und Erwachsene
Nach einer achtmonatigen Blockade ist die Zivilbevölkerung erschöpft. Augenzeugen berichten, dass die Versorgung mit Gas, Wasser und Strom regelmässig ausfalle. Täglich komme es zu stundenlangen Stromausfällen. Damit werde auch die begrenzte lokale Produktion Bergkarabachs lahmgelegt. Die Fehlgeburten hätten sich vervielfacht, weil die Mütter unterernährt seien, bestätigen Ärzte vor Ort. «Schlimm ist das Gefühl von Hunger», sagt im Telefongespräch die 69-jährige pensionierte Amalia Arakelyan aus der Hauptstadt Bergkarabachs Stepanakert. «Mitansehen zu müssen, wie unsere Kinder und Enkelkinder an Hunger leiden, ohne dass wir etwas dagegen tun können, das ist weitaus schlimmer.» Sie berichtete von langen Menschenschlangen, die täglich stundenlang um einen Brotleib anstehen müssen und nun nicht mal das mit nach Hause bringen können.
Aserbaidschans Herrschaft akzeptieren oder gehen
Am 14. August 2023 ersuchte die armenische Regierung den UN-Sicherheitsrat um eine Dringlichkeitssitzung im Bezug auf die humanitäre Krise in Bergkarabach. Armenien ist nach dem letzten Krieg um Bergkarabach 2020 das geopolitisch schwächste Glied im Südkaukasus. Seine Armee ist dezimiert worden und Russland, das die Armenier seit je für ihren «strategischen Partner» hielten, hat längst die Seiten gewechselt.
«Was Armenien als humanitäres Problem darzustellen versucht, ist in Wirklichkeit eine provokative und unverantwortliche politische Kampagne, die darauf abzielt, die Souveränität und territoriale Integrität Aserbaidschans anzugreifen», sagte Aserbaidschans Delegierter. Wie er ausführte, habe Aserbaidschan schliesslich den Armeniern humanitäre Hilfe über die Aghdam-Route angeboten, welche sie aber abgelehnt hätten.
Sieben lange Monate nach Beginn der Blockade schlug Aserbaidschans Aussenminister Jeyhun Bayramow Ende Juli erstmals humanitäre Hilfe für Bergkarabach vor. Seine Regierung sei bereit, die Lieferung von «lebenswichtigen Gütern» zu erleichtern, erklärte er laut Presseberichten gegenüber dem Leiter des örtlichen Büros des Internationalen Roten Kreuzes. Diese sollte allerdings nicht wie bis anhin durch den Latschin-Korridor erfolgen, sondern über die seit langem gesperrte Strasse zwischen der aserbaidschanischen Ruinenstadt Aghdam und Bergkarabachs Städtchen Askeran.
Handelte es sich um eine Geste des Guten Willens, wie Aserbaidschan behauptet, oder lediglich um einen zynischen Versuch, die Karabach-Armenier zur Aufgabe zu zwingen, wie sie glauben? Seit Aserbaidschans Sieg über Armenien 2020 macht die Regierung Bakus in allen Tonlagen klar, dass die Karabach-Armenier ihren Anspruch auf Selbstverwaltung, auf eine Autonomie, auf ihre Kultur und Identität besser für immer vergessen sollten.
Aserbaidschans Autokrat Ilham Aliyew wiederholte in einem Interview mit «Euronews» am 2. August 2023 zum x-ten Mal: «Die Menschen, die in Karabach leben…, leben in Aserbaidschan. Sie haben die Wahl, als Bürger einer ethnischen Minderheit Aserbaidschans zu leben oder zu gehen. Das ist ihre Entscheidung.»
Die vagen Zusicherungen seiner Regierung, wonach die Armenier in Berg-Karabach unter aserbaidschanischer Herrschaft als Minderheit Rechte und Sicherheit geniessen würden, glaubt in Bergkarabach niemand. Zu frisch ist die Erinnerung an den Krieg von 2020, als aserbaidschanische Drohnen die Geburtsklinik und den Gemüsemarkt ihrer Hauptstadt trafen und als aserbaidschanische Soldaten Armenierinnen vergewaltigten und ihre brutale Taten in den sozialen Medien verbreiteten. Zu lebendig ist auch die Erinnerung an die unzähligen Pogrome und Vertreibungen in den letzten vier Jahrzehnten, die jedes Vertrauen zwischen Aserbaidschanern und Armeniern vernichtet haben.
Vor diesem Hintergrund fordert die armenische Seite internationale Mechanismen, die ihre Rechte und ihre Sicherheit in Bergkarabach überwachen, kontrollieren und garantieren können. Allem anderen wird mit Misstrauen begegnet. Gleich nachdem die Nachricht von einem humanitären Angebot Aserbaidschans bekannt wurde, sperrten Bauern aus Askeron die Strasse, die zur aserbaidschanischen Stadt Aghdam führt, mit Steinen.
Völkerrecht gegen Völkerrecht
Eine Sackgasse also? Baku spricht vor internationalen Foren gerne über jenes Recht, das auf der UN-Charta und der Schlussakte von Helsinki aus dem Jahr 1975 verankert ist, und den Staaten territoriale Integrität garantiert.
Dabei wird jedoch ignoriert, dass dieselbe UN-Charta und die Schlussakte von Helsinki 1975 nicht nur die territoriale Integrität der Staaten garantieren, sondern auch das Recht der Völker auf Selbstbestimmung. Ignoriert wird auch, dass der Internationale Gerichtshof in seinem Gutachten zur Unabhängigkeitserklärung des Kosovo im Jahr 2010 noch weiter ging und Völkern, die «fremder Unterwerfung, Herrschaft und Ausbeutung unterworfen» sind, gar ein «Recht auf Unabhängigkeit» einräumte.
Dem Frieden eine Chance geben
Der armenische Wissenschaftler Hrair Balian, der leitende Positionen bei der UNO und der OSZE inne hatte, will die Hoffnung auf eine friedliche Lösung nicht aufgeben. In seinem Bericht schreibt er: Ein Kompromiss könne ein Status sein, der mit dem von den USA vermittelten Karfreitagsabkommen für Nordirland (1998) vergleichbar sei und vorsieht:
- «Bergkarabach die höchste Autonomiestufe innerhalb Aserbaidschans mit umfassenden Befugnissen in Bezug auf die Rechte und die Sicherheit der Bevölkerung zu gewähren
- Armenien und Aserbaidschan eine gemeinsame Regierungsgewalt für bestimmte Befugnisse einräumen, die nicht der autonomen Behörde vorbehalten sind.»
Ihm pflichtet Vartan Oskanian bei, der von 1998 bis 2008 Aussenminister von Armenien war: Seit Aserbaidschan, Armenien und Georgien sich Anfang der 1920er Jahre im Südkaukasus als Staaten konstituierten, habe Bergkarabach einen autonomen Status genossen. Den Armeniern Karabachs nun die Autonomie zu rauben, käme «ihrer Vertreibung und einem Zwangsfrieden gleich», sagt Oskanian. Und fügt an: «Zwangsfrieden sind kurzlebig.»
Die Dringlichkeitssitzung im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen wurde beendet, ohne dass der 15-köpfige Korpus zu einer gemeinsamen Erklärung, oder einer rechtsverbindlichen Resolution gelangen konnte. Frankreich, Grossbritannien und die USA forderten Aserbaidschan einmal mehr auf, die Blockade des Latschin-Korridors gemäss einem Urteil des obersten UN-Gerichthofs vom letzten Februar aufzuheben. Mahnungen des Westens lassen die Führung in Baku allerdings kalt. Alijew weiss, dass sein Lnad über jene Erdgas-Reserven verfügt, die europäische Staaten nach dem Krieg in der Ukraine bitter nötig haben. Er wähnt sich am längeren Hebel.
Im Gegensatz zu Europa erregte Russland mit seinem Vorschlag Aufsehen. Der russische Delegierte forderte, den Latschin-Korridor gleichzeitig mit der Aghdam-Route zu öffnen. Die sei in der jetzigen Situation eine «realistische, kompromissorientierte Lösung», sagte er. Die Zeit für die Menschen in Bergkarabach drängt. Ob dieser Vorschlag mehr Chancen haben wird, um der humanitären Tragödie ein Ende zu setzen? Unklar.