Machen wir es kurz: Mit der Erklärung der Unabhängigkeit beginnt für die Ukraine ein Prozess der Entkolonialisierung, der durch die historische Rolle der Sowjetunion in paradoxer Weise erst aufgehalten wurde, durch deren Implosion jedoch enorm beschleunigt worden ist.
Als Republik der Sowjetunion war die Ukraine Teil der Union, der die Unterstützung der anti-kolonialen Befreiungskämpfe im Rahmen des sowjetischen Blocks mittrug, dabei selbst aber innere Kolonie der Sowjetunion blieb. Nach dem Zerfall der Sowjetmacht wandte sich der seinerzeit nach außen gerichtete antikoloniale Impuls nun gegen Russland als Kern der ehemaligen Sowjetunion.
Ergebnis ist die untrennbare und zugleich giftige Vermischung der gegenwärtigen verspäteten Nationenbildung mit tief verankerten antirussischen Ressentiments in den westlichen Teilen der Ukraine, die sich als antikoloniale verstehen.
Dies bedarf jedoch einer genaueren Erklärung: Russischer, dann sowjetischer Kolonialismus ist historisch anders gewachsen als europäischer, später US-amerikanischer. Die russische Expansion war eine sammelnde, assoziative, integrierende. Russische Kolonien wurden innere Kolonien im Gegensatz zu den europäisch-amerikanischen Überseekolonien. Russische Kolonien wurden zum effektiven Bestand des Zarenreiches, dann der Sowjetunion bis hinein in die ökonomische Arbeitsteilung. Russische imperiale Realität ist eine Vielvölkerrealität, die ganze Kulturen als eigene Organe versteht, nicht als zu beherrschende imperiale ‚Außenstände‘.
Wenn heute, mit hundertjähriger Verzögerung, der Prozess der Entkolonisierung, der seinerzeit zur Auflösung der europäischen Imperien führte, insonderheit des habsburgischen und des Osmanischen Reiches, als nachholende Entkolonisierung auch Russland erreicht, dann wiederholt sich nicht einfach dasselbe in erweitertem Maßstabe wie vor hundert Jahren.
Zum einen sind die inneren Kolonien mit dem Kernland, anders als im europäischen, überseeischen Kolonialismus zu organischen Verbindungen verwachsen. Einverleibte Territorien und Völker Eurasiens wurden zu integralen Bestandteilen des russischen Reiches, in der Sowjetunion auch zu arbeitsteiligen Funktionsteilen. Man denke hier als besonders aktuelles Beispiel nur an die Auslagerung der sowjetischen Schwerindustrie in den Donbass.
Zum anderen haben sich die Bevölkerungen, auch wenn sie nach wie vor ethnische oder kulturelle Kerngebilde bilden, vermischt, assimiliert. Zigtausende Russen leben heute in den ehemaligen Republiken der sowjetischen Randgebiete. Die Integration verlief nicht immer friedlich, auch das muss dazu gesagt werden. Ihre Folgen waren und sind aber unumkehrbar, klarer gesagt, nur mit Gewalt umkehrbar; ihre Desintegration, wie sie aus der Auflösung der Sowjetunion folgte, gleicht in vielem dem Herausreißen von Gliedern aus dem eigenen Körper. Ohne Bild gesprochen: die Entmischung von russischsprachigen Minderheiten und ortsansässigen Kulturen und umgekehrt ortsansässiger Kulturen aus dem russischen Kernland ist ein äußerst schwieriger, krisentreibender Prozess.
Gestatten wir uns, um dies besser zu verstehen, nur einen kurzen Seitenblick, wie sehr sich die russische Art der Kolonisation von der des Westens unterscheidet. In deren Zug wurden kolonisierte Völker entweder massakriert wie die einheimische indianische Bevölkerung Amerikas oder zumindest wie im früheren europäischen Kolonialismus außerhalb des eigenen Landes gehalten.
Aus der besonderen Geschichte des inneren Kolonisation Russlands folgte zur Zeit der Implosion der Sowjetunion eine äußerst widersprüchliche, komplizierte Form der Ablösung, in der sich ideologische Emanzipation vom Sowjetismus, bis ins rassistische gehender kruder Anti-Russismus mit real existierender Verbundenheit und Abhängigkeit in untrennbarer widerstreitender Wechselwirkung mischte.
So intensiv die integrierende Vermischung zwischen der Bevölkerung des russischen Kernlandes und den im Laufe der Geschichte einverleibten Völkern und Kulturen bis in Blutsbande hinein war, so extrem vollzog sich die gegenwärtige Entmischung.
Diese Konstellation galt mehr oder weniger für alle ehemaligen Republiken der Sowjetunion – in bisher nicht realisiertem Maße selbst für die inneren Republiken des heutigen Russlands an der Wolga, in Sibirien und im Kaukasus, allerdings ohne, dass regionale Unabhängigkeitsbewegungen, die sich mit dem Zerfall der Union auch dort bildeten, zu Loslösungen dieser Gebiete aus dem russländischen Zusammenhang geführt hätten. Doch mag sich manche/r Regime-Changer trotz dieser Tatsachen auch für das Kerngebiet Russlands Hoffnung auf eine solche Entwicklung gemacht haben und immer noch machen. Es ist ja für die Zukunft auch keineswegs auszuschließen, dass sich der auf Moskau zentrierte und zugleich föderal organisierte Vielvölkerorganismus zu einer lockeren Konföderation entwickelt – wenn dies unter den Bedingungen eines globalen, tendenziell multipolaren Friedens geschehen könnte.
Eins ist klar: Die Entmischung, die nach der Überführung der Kolonien in einheitliche Nationalstaaten vor hundert Jahren schon zu ethnischen Säuberungskriegen und zahlreichen rassistischen Pogromen führte, die den Weltkriegsgräueln um Jahre folgten, hat sich bei der Verwandlung der sowjetischen Republiken in einheitliche Nationalstaaten heute auf neuem Niveau rund um die ehemalige Sowjetunion wiederholt. Das hat schon zigtausende von Toten gekostet. Für die Ukraine nimmt dieser Prozess der Vereinheitlichung unter dem Druck ihrer tatsächlichen ethnischen und kulturellen Diversität und dem Wunsch, sich von den immer noch engen Verbindungen zu Russland gewaltsam emanzipieren zu wollen, selbstmörderische Formen an. Statt ihre Potenz der Vielgestaltigkeit und Offenheit zu entwickeln, die ihrer Geschichte entsprechen würde, wird sie zurzeit in einem unifizierenden Prozess einer gewaltsamen „Ukrainisierung“ erstickt.
Die ukrainische Radikalisierung des nachsowjetischen Entmischungsprozesses – weit extremer als im baltischen, im mitteleuropäischen oder auch im zentralasiatischen Raum – ist dazu geeignet, den gegenwärtig bereits stattfindenden Krieg zwischen Russland und Kiew über das bisherige Maß der neuen Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion hinaus zu einem nationalistischen Brandherd zu steigern, in den nicht nur die ukrainische Bevölkerung, sondern auch die übrige Welt hineingezogen zu werden droht – wenn die Ukraine nicht durch sofortige Friedensverhandlungen, unterstützt durch Vertreter der Weltgemeinschaft, einen neutralen Status findet, in dem ihre Pluralität sich von einem krisentreibenden Problem in eine Chance auf eine selbstverwaltete nicht-nationalistische Ordnung wandeln könnte.