Verwirrter, auch irritierender könnten die Reaktionen kaum noch sein, die dem „Aufstand“ des Milizenführers Jefgeni Prigoschin nach dem Abbruch des von ihm organisierten Marsches der Wallenstein-Truppen auf Moskau folgten.
Eine „Schwächung“ Wladimir Putins wollen westliche Politiker und Medien in den Ereignissen sehen. Von „Rissen im Machtgefüge“ ist die Rede, Hohn und Spott ergießen sich über den „schwächelnden“ Putin. Zugleich werden, nicht selten von den gleichen Leuten die Gefahren beschworen, die von einem angeschlagenen, gar einem entmachteten Putin, insbesondere von den nach Weißrussland exilierten Wagner-Truppen für den Westen ausgehen könnten. Andere Stimmen halten den ganzen Wagner-Aufmarsch für einen Coup, mit dem Putin den Westen auf falsche Fährten locken möchte. Man kann nur staunen über so viel hysterischen Einfallsreichtum.
Geht man ruhiger an die Sache heran, dann zeigt sich: Putins verhaltene Reaktion, mit der er dem Marsch auf Moskau begegnet ist, statt ihn niederschlagen zu lassen, hat zu seiner Stärkung geführt. Er bekam Zustimmung von allen Seiten der Machtstrukturen des Landes. Selbst notorische Einzelgänger wie der tschetschenische Milizenführer Ramsan Kadyrew erklärten Putin ihre Loyalität. Die Meuterei wurde abgebogen, bevor sie Russland in innere Unruhen stürzen konnte.
Das ist sicherlich keine Stärkung Putins für immer und nicht für alle denkbaren zukünftigen Situationen, aber aktuell ist es so. Es ist Putin gelungen, die Unzufriedenheit, die sich in Prigoschins „Marsch der Gerechtigkeit“ verdichtet hatte, durch Zugeständnisse des freien Geleites für Prigoschins Ausreise nach Belarus, durch Angebote an die Mitglieder der Wagnertruppe, sich frei entscheiden zu können, ob sie sich dem Heer unterstellen, mit Prigoschin nach Belarus gehen oder ganz aus dem Dienst ausscheiden wollen, ins Leere laufen zu lassen. Für wie lange die so hergestellte Ruhe anhält, ob sie „Säuberungen“ im Machtgefüge nach sich zieht, wie von westlicher Seite vermutet wird, darüber muss hier nicht spekuliert werden. Das wird die Zeit zeigen.
Es sollen hier auch nicht die Einzelheiten der Geschehnisse, die zu dem Marsch auf Moskau und zu dessen Abbruch geführt haben, referiert werden; zu wild wuchern die Spekulationen auch dazu von allen Seiten, innen- wie außenpolitisch. Aber ein Element tritt aus dem Gewirr der Ereignisse hervor, das mit Blick auf die Zukunft besondere, unbedingte Beachtung erfordert: das ist Putins Warnung vor einem neuen „1917“, das Russland zerreißen könne. Wörtlich erklärte Putin in seiner Rede an die Nation, in der er die Aktion der Meuterer als Verrat charakterisierte:
„Das ist genau der Dolchstoß, der Russland 1917 versetzt wurde, als es im Ersten Weltkrieg kämpfte. Aber der Sieg wurde dem Land gestohlen. Intrigen, Streitereien, Politik hinter dem Rücken der Armee und des Volkes führten zum größten Schock, zur Vernichtung der Armee und zum Zerfall des Staates, zum Verlust riesiger Gebiete. Das Ergebnis war die Tragödie des Bürgerkrieges.“
Lassen wir dahingestellt sein, welchen „Dolchstoß“, von wem durchgeführt, Putin konkret meint; er lässt es offen und auf Namen kommt es in diesem Moment auch nicht an. Wichtiger ist zu erkennen, dass er seine Warnung in seinen weiteren Ausführungen mit dem Begriff einer neuen „Smuta“ verbindet. Damit ruft er das zentrale Motiv, man könnte auch sagen, die zentralen Ängste der russischen, genereller gesprochen, der russländischen Vielvölkergeschichte auf, welche die russische Gesellschaft seit Generationen, trotz aller Spannungen, immer wieder im Bann halten.
Das Bild der Smuta, übersetzt, der verwirrten Zeit, steht für das tief im kollektiven Bewusstsein der russischen Bevölkerung verankerte Trauma des immer wieder erfolgten Zusammenbruchs russischer Staatlichkeit, genauer des russischen Vielvölkerorganismus unter dem Druck äußerer Bedrohung; für die im Lauf der langen Geschichte Russlands immer wieder auftretenden extreme Brüche zwischen Phasen ebenso extremer Stabilität. Das sind, um nur die wichtigsten Stationen zu nennen: das Chaos, das der Zerschlagung der Rus nach ihrem rund dreihundertjährigen Bestehen durch die Mongolen 1241 folgte; die Übergangszeit nach dem Tod Iwans IV. 1584 bis zum Antritt des ersten Romanow 1618, die der Smuta ihren Namen als „Zeit der Wirren“ gab, sie stand unter gleichzeitigem Druck seitens des polnisch-litauischen Großreichs; der Zerfall des Zarenreiches durch Krieg und Revolution 1905 bis 1917; schließlich die Auflösung der Sowjetunion 1991 und das Chaos unter Jelzin.
Dies alles und noch weitere Unruhen in dem Vielvölkerraum, wie die Kosakenaufstände im 17. und 18. Jahrhundert, ganz zu schweigen von den zurückliegenden Weltkriegen selbst, ruft Putins Warnung vor einem neuen „1917“ und seine Benennung dieser Ereignisse als Smuta in Erinnerung, ohne dass er es im Detail differenzieren müsste. Er trifft damit auch so, um es deutlich zu sagen, ins Herz einer Bevölkerung, die sich vor nichts mehr fürchtet als vor einer erneuten Smuta, einer erneuten „verwirrten Zeit“, einer neuen Revolution, neuen Angriffen von außen, die die Völker des riesigen russischen Raumes wieder einmal ins Chaos und Elend führen könnten.
Anders gesagt, zu einem besseren Kitt als an das Chaos zu erinnern, dass Zeiten der Smuta immer wieder über das Land brachten und eine neue Smuta erneut bringen könnte, konnte Putin nicht greifen, um das Land in Kriegszeiten wie der jetzigen, in denen es erneut von außen bedrängt wird, zu stabilisieren.
Putins Warnung vor einer erneuen Smuta ist im Übrigen zugleich eine Botschaft an das westliche Ausland, sich mit Träumen wie dem Sturz des russischen Präsidenten oder der „Vernichtung“ Russlands zurückzuhalten, wenn ein Chaos für Eurasien mit globalen Auswirkungen vermieden werden soll.