Wie für die USA in Afghanistan, im Irak, in Serbien, Syrien oder Libyen gab es auch für Russland in der Ukraine Alternativen.
Matthew Hoh für INFOsperber
Auf meinen Artikel „Die lange Vorgeschichte von Russlands Angriffkrieg“ gab es einige leidenschaftliche Einwände: Russland habe [wegen der immer näher rückenden NATO und der Bombardierungen im Donbas] gar keine andere Wahl gehabt, als im Februar 2022 in die Ukraine einzumarschieren. Ich bin ziemlich erstaunt und besorgt, dass die vorsätzliche Besetzung eines souveränen Landes und ein klarer Verstoss gegen die Nürnberger Prinzipien und gegen das Völkerrecht angeblich die einzige Option für Russland gewesen sein soll.
Die präventive Invasion und Besetzung der Ukraine hat bisher Hunderttausende Tote und Verletzte gefordert. Mehr als zehn Millionen Menschen mussten ihre Wohnorte verlassen, viele davon in den Westen oder nach Russland. Die Umwelt wurde massiv und dauernd zerstört. Nun kann es zu einer gefährlichen Eskalation mit einem atomaren Weltkrieg kommen.
Anstatt im Februar 2022 die Ukraine militärisch anzugreifen, standen Russland viele wirtschaftliche und diplomatische Optionen zur Verfügung:
- Ein Energieembargo gegen Westeuropa:
- Die Schliessung der Grenzen und die Einschränkung des Handels mit der Ukraine;
- Eine Seeblockade der Ukraine (wäre allerdings auch als kriegerischer Akt anzusehen)
- Ein Versuch, die amerikanische Wirtschafts- und Währungshegemonie zu untergraben und alternative Handelsmechanismen durch Partnerschaften mit anderen Nationen zu schaffen. (Jetzt während des Kriegs sind solche Bemühungen im Gange.)
Am 15. März 2022 hatte David Swanson, Exekutivdirektor von World Beyond War, insgesamt dreissig nicht-kriegerische Möglichkeiten für Russland und dreissig für die Ukraine aufgezählt.
Auch George W. Bush hatte andere Möglichkeiten
Freilich gibt es einen Unterschied zwischen gewünschten und politisch möglichen Optionen. Ein ehemaliger Taliban-Minister erklärte einmal auf Al-Jazeera, dass es ihm nicht gelungen sei, seinen Mit-Taliban-Führern klar zu machen, dass George W. Bush nach den Anschlägen vom 11. September nur sehr wenige andere politische Optionen als den Krieg gegen Afghanistan gehabt habe.
Tatsächlich hatte auch Präsident Bush in den Wochen und Monaten nach den Anschlägen vom 11. September 2001 andere Möglichkeiten.
Doch das Weisse Haus von Bush entschied sich für Invasion und Besetzung, ebenso wie das Weisse Haus von Obama 2009 für die weitere Eskalation in Afghanistan. In beiden Fällen behaupteten die Präsidenten Bush und Obama, sie hätten keine andere Wahl gehabt als eine militärische Aggression. Die gleichen Argumente wurden gegen Bashar Assad und Muammar Ghaddafi aufgetischt.
«Keine andere Wahl»
Fast immer erklären Kriegsführende, sie hätten keine andere Wahl gehabt:
- Wer behauptet, Russland habe keine anderen Möglichkeiten gehabt, als die Ukraine zu überfallen, rechtfertigt die Kriege von Bush, Obama und Trump gegen Afghanistan, den Irak, Libyen und Syrien.
- Ebenso können die Saudis sagen, dass sie keine andere Wahl hatten, als den Jemen zu bombardieren, eine Blockade zu verhängen und 400’000 Menschen abzuschlachten und verhungern zu lassen.
- Die Israeli können sagen, dass sie kürzlich keine andere Wahl hatten, als Apache-Kampfjets nach Dschenin zu schicken.
Man kann jetzt schon voraussagen, dass die USA und Israel eines Tages sagen werden, sie hätten «keine andere Wahl» gehabt, als den Iran militärisch anzugreifen.
Grenzüberschreitende Angriffskriege verurteilen
Eine friedliche Zukunft gibt es wohl nur, wenn wir uns an das Völkerrecht halten und alle grenzüberschreitenden Angriffskriege verurteilen. Wer die UNO-Charta nicht respektiert, schadet enorm den Institutionen und Strukturen, die uns und künftigen Generationen zur Verfügung stehen.
Wenn wir eine Chance haben wollen, den Klimawandel einzudämmen, die Menschenrechte voranzubringen, Besetzungen zu beenden und unsere nuklearen Weltuntergangsmaschinen abzubauen, dann nur durch solide internationale Institutionen, durch Vertrauen, Zusammenarbeit und Diplomatie sowie durch die Einhaltung des Völkerrechts.
Der Krieg ist eine Kraft, die sich der menschlichen Kontrolle entzieht, eine Kraft, die unsere Rechtschaffenheit und Moral zerstört. Der Krieg in der Ukraine ist nicht einfach ein Krieg zwischen Gut und Böse. Die Kosten und Folgen des Krieges in der Ukraine werden die von allen Seiten vorgebrachten Begründungen und Entschuldigungen bei weitem übertreffen. Noch sind wir uns der Folgen dieses Krieges nicht bewusst, so wie 1915 die Vorstellung eines weiteren dreijährigen Krieges, des Verlusts von Imperien, der Spanischen Grippe oder eines zweiten Weltkriegs unvorstellbar war.
Wer auch immer in der Ostukraine «gewinnt», wird ein entvölkertes und von zerstörter Infrastruktur geprägtes Land gewinnen. Dieses Land wird über Generationen hinweg durch die militärischen Gifte des Krieges verseucht und mit Landminen und nicht explodierten Sprengkörpern übersät sein. Es ist sehr wahrscheinlich, dass ukrainische Mütter genauso leiden werden wie irakische, afghanische und südostasiatische Mütter, die über Generationen hinweg tote, missgebildete und kranke Kinder zur Welt bringen werden, die auf das unauslöschliche toxische Erbe des modernen Krieges zurückzuführen sind. Die Kinder und ihre Familien werden noch Jahrzehnte später für diesen Wahnsinn in der Ukraine bestraft werden, so wie Kinder und ihre Familien in allen Ländern, in denen ein Krieg stattgefunden hat, bestraft werden. Werden sie ihnen in Jahren, wenn sie immer noch sterben und leiden, sagen, dass es keine andere Möglichkeit gab?
Dieser Artikel ist eine gekürzte und übersetzte Version der am 27. Juni auf Substack erschienenen Analyse von Matthew Hoh.
Autor Matthew Hoh
Hoh ist seit 2010 Senior Fellow am Center for International Policy in Washington. Im Jahr 2009 trat er aus Protest gegen die Entwicklung des Krieges in Afghanistan von seinem dortigen Posten zurück. Zuvor beteiligte sich Matthew an der Besetzung des Irak, zunächst 2004/5 in der Provinz Salah ad Din mit einem Team des Aussenministeriums für Wiederaufbau und Regierungsführung und dann 2006/7 in der Provinz Anbar als Kompaniechef des Marine Corps. Wenn er nicht im Einsatz war, beschäftigte sich Hoh bis 2008 im Pentagon und im US-Aussenministerium mit den US-Einsätzen in Afghanistan und im Irak. 2022 kandidierte Hoh als Aussenseiter der Green Party für einen Senatssitz in Washington, erhielt aber nur ein Prozent der Stimmen.