Andi Bablers “unsere Leute” ist kein Ausdruck spalterischer Agitation – es ist die rein beschreibende Benennung einer bereits existierenden Spaltung.
Ein Gastkommentar von Lisa Sinowatz
Nein, man muss nicht mit Akteur:innen vom Zuschnitt eines Herrn Benkö den „Zusammenhalt“ suchen. Die zentralen Akteur:innen des herrschenden Wirtschafts- und Gesellschaftssystems sind nicht „meine Leute“ – und werden es auch nie sein. Und genau deshalb ist die Gleichmacherei des Pfarrers vom Heldenplatz unangebracht, ja geradezu zynisch.
Die Vorannahme einer Klassengesellschaft mit einer entsprechenden Gliederung und ihre umgangssprachliche Verknappung auf die sprachliche Formel „unsere Leute“, wie Andi Babler sie in den öffentlichen Diskurs eingeführt hat, ist kein Ausdruck spalterischer Agitation – es ist die rein beschreibende Benennung einer bereits existierenden, in der Tat schä(n)dlichen Spaltung.
Vor allem aber: Anders als die ethnisch, religiös, nationalistisch oder kulturell definierten Gruppenidentitäten der Rechten ist Bablers Begriffskonzept kein essentialistisches, sondern ein politisch-soziologisches. Sein „unsere Leute“ umfasst keinen Menschen aufgrund dessen bloßen Seins (Ausländer, Frau, schwul, arm) sondern aufgrund dessen individueller Entscheidungen und Handlungen.
Im Gegensatz zu den Kollektivkonstruktionen der FPÖ (Autochthone/Nicht-Autochthone) und der ÖVP (Normale/Abnormale) ist das Kollektiv, das Babler mit „unsere Leute“ bezeichnet also eine Gruppe, der man nicht von oben herab durch Fremdzuschreibungen zugeordnet wird. Es ist keine deterministische, durch biologisch-bürokratische Merkmale vordefinierte Identitätszuschreibung, gegen die man sich nicht wehren kann.
„Unsere Leute“ ist ein selbstkonstituierendes Kollektiv, das jedem Menschen offen steht, der sich den Positionen dieser Gemeinschaft verbunden fühlt – völlig egal, warum. Der klassenbewusste Arbeiter, der seine konkreten sozialen, ökonomischen und politischen Interessen durchsetzen möchte kann sich in dieser Gruppe ebenso zuhause fühlen wie die Millionenerbin, die der Realität ins Auge sieht, dass sie leistungslos und durch bloßes Glück der hohen Geburt ein Vielfaches an materiellen und sozialen Ressourcen zur Verfügung hat als 95% der restlichen Österreicher:innen – und das als krass ungerecht einordnet und daher ändern möchte. Diese auf den ersten Blick so unterschiedlichen Menschen können in Bablers politischem WIR Seite an Seite für eine Überwindung der herrschenden Verhältnisse kämpfen. Und das ist gut so, denn dafür brauchen sie einen gemeinsamen Ort, eine gemeinsame theoretische Basis, eine gemeinsame politische Organisation.
WENN es Fremdzuschreibungen gibt, dann durch die Kräfte der politisch Ewiggestrigen – man braucht nicht lange nachzudenken, und die Erinnerungen an die konkrete Verachtung kommen im Stakkato wieder hoch: „Rote Gfriesa“ – Andreas Khol, „rotes Gsindl“ – Johanna Mikl-Leitner, „Tiere“ – Thomas Schmid, etc. Diese Fremdzuschreibungen brauchen Akteurinnen wie die ÖVP eben deshalb, WEIL ihre eigenen Kollektive – im Gegensatz zu linken Ideen von Gemeinschaft – deterministisch und hermetisch geschlossen sind, also auch geistige und soziale „Gated Communities“.
Der Treppenwitz der Geschichte: Vor dem Hintergrund der sozialen und kulturellen Atomisierung („There is no such thing as society“ – M. Thatcher) wurde die Vereinzelung der Menschen aka Entsolidarisierung der Gesellschaft just von Parteien wie der ÖVP unter dem Versprechen von mehr „individueller Freiheit“ vorangetrieben.
Vizekanzler Kogler hat Recht, wenn er die protofaschistischen Grundlagen solcher Kategorisierungen anspricht: Die atavistische Einteilung in „Normale“ und „Abnormale“ und die Schaffung einer rigide normierten Gruppenidentität zerstört de facto jegliche individuelle Freiheit – während sie das genaue Gegenteil behauptet. Eine zentrale politikwissenschaftliche Kennziffer für faschistische Systeme. Gustav Radbruch, sozialdemokratischer Justizminister der Weimarer Republik, hat den Faschismus ex post unter anderem dadurch definiert, dass dessen Unrechtssystem Menschen aufgrund ihres bloßen Seins (nicht ihres Handelns) verurteilt hat.
Es zeigt sich einmal mehr, wie Recht Max Horkheimer hatte: „Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen.“ – Alexander Van der Bellen hat in seiner Rede vor dem Bregenzer Premierenpublikum aber nicht nur moralische Luftblasen von sich gegeben, er hat auch die x-fach belegte „Broken Window“-Theorie zitiert und damit einen Kausalzusammenhang zwischen sozialem Frieden und materiellen Grundlagen angedeutet. Leider ging die Rede aber nicht über die Schritte Analyse – These hinaus…denn die Synthese, die Zusammenführung einer wissenschaftlich fundierten Feststellung (Broken Window Theory) und einer – in diesem Fall als Moralurteil daherkommenden – These („Soziale Spaltung ist schlecht.“) hat gefehlt. Was unausgesprochen blieb: Es wird ohne materielle Mittel nicht möglich sein, die zerbrochenen Fenster zu reparieren. Die Vermögenden sind jedoch nicht bereit, Mittel freizumachen. Den 95% bleibt daher nichts anderes übrig, als politisch um diese Mittel zu kämpfen. Dazu müssen sie sich solidarisieren – sich und einander bewusst werden. „Unsere Leute“ eben…
Es mag zwar nicht überraschend sein, wenn Bürgerliche wie Alexander Van der Bellen oder Hans Rauscher diese Differenzierungen aus ihrem Weltbild heraus nicht vornehmen. Nichtsdestotrotz sind diese Offenbarungen jedes Mal aufs Neue mehr als betrüblich, denn diese Exponenten repräsentieren in Österreich jene bürgerlich-liberalen Kräfte, auf die eine breite und wirksame antifaschistische Bewegung realistischerweise nicht verzichten kann. Es wird deutlich, wie weit rechts in Österreich auch die Liberalen stehen.