Berlin erhebt Vorwürfe gegen Moskau wegen der Aussetzung des Getreidedeals, blendet aber die Folgen der Russland-Sanktionen für den Globalen Süden bei der Getreide-, Düngemittel- und Erdgasversorgung aus.

Die Bundesregierung erhebt schwere Vorwürfe gegen Russland wegen der Aussetzung des Getreidedeals mit der Ukraine. Dass Moskau sich seit Wochenbeginn nicht mehr an das Abkommen halte, das ukrainische Getreideexporte über das Schwarze Meer ermöglicht hat, zeige, dass Präsident Wladimir Putin „erneut Hunger als Waffe gegen die ganze Welt“ einsetze, erklärte Außenministerin Annalena Baerbock am Montag. Zwar gefährden ausbleibende Getreidelieferungen aus der Ukraine – wie schon die kriegsbedingten Einbrüche bei der ukrainischen Ernte – die ohnehin prekäre Versorgung insbesondere ärmerer Länder mit Nahrungsmitteln zusätzlich. Das gilt allerdings auch für die Sanktionen des Westens, die Getreide- und Düngemittelexporte aus Russland behindern – zu Lasten des Globalen Südens. Die EU ist zwar ohne weiteres fähig, russische Ausfuhren zu ermöglichen, die sie selbst benötigt – etwa Kernbrennstoffe und Nickel –, unterlässt dies aber bei denjenigen russischen Exporten, die ärmere Staaten dringend brauchen. Im vergangenen Jahr kauften die EU-Staaten, im Sanktionsrausch auf russisches Pipelinegas verzichtend, Ländern wie Pakistan Flüssiggas weg und trieben sie damit in bittere Krisen.

Ukrainisches Getreide

Die direkten Konsequenzen des Ukraine-Kriegs für die globale Versorgung mit Getreide liegen offen zutage. Kriegsschäden aller Art – von der Zerstörung von Infrastruktur über die Verminung von Ackerflächen bis zum Mangel an Arbeitskräften, die umgekommen, an der Front oder geflohen sind – und Gebietsverluste haben die Ernte in der Ukraine empfindlich einbrechen lassen. Branchenexperten halten es für möglich, dass der Ertrag in diesem Jahr auf bis zur Hälfte der Rekordernte des Vorkriegsjahres 2021 fällt. Entsprechend wird mit einem weiteren Rückgang der Getreideexporte gerechnet; Schätzungen belaufen sich auf ein Schrumpfen der Weizen- und Maisausfuhr um rund 15 bis 18 Millionen Tonnen gegenüber 2021 auf 27 bis 30 Millionen Tonnen.[1] Die Lücke auf dem Weltmarkt, die damit entsteht, werde perspektivisch wohl von Exporteuren aus Nord- und Südamerika gefüllt, vermutet ein Experte von Citi Research.[2] Kurzfristig droht die Tatsache, dass Moskau am Montag den Getreidedeal ausgesetzt hat, die Lücke weiter zu vertiefen. Zwar sind die Getreidepreise, die zu Wochenbeginn kurz in die Höhe schnellten, inzwischen wieder auf das Niveau der vergangenen Wochen zurückgegangen – auch, da seit einiger Zeit zusätzliches Getreide aus Brasilien verfügbar ist.[3] Dennoch bringt das Aussetzen des Deals neue Belastungen in ohnehin schwieriger Zeit mit sich.

Russischer Dünger

Letzteres gilt gleichermaßen dafür, dass die westlichen Russland-Sanktionen immer noch russische Getreide- und Düngemittelexporte behindern. Zwar hat der Westen beides formal von seinen Zwangsmaßnahmen ausgenommen. Doch werden die Lieferungen weiterhin von den Sanktionen gegen die russische Finanz- und Transportbranche behindert: Getreide und Dünger dürfen zwar theoretisch geliefert, können aber weder transportiert noch bezahlt werden. Die im vergangenen Jahr vereinbarten Ausnahmeregeln greifen in der Praxis nicht; dies träfe laut russischer Einschätzung auch auf ein neues Ausnahmeangebot zu, das die EU kürzlich präsentiert hat. Im Ergebnis sind die russischen Düngemittelexporte im vergangenen Jahr zurückgegangen; bereits in den ersten zehn Monaten des Jahres 2022 schrumpften sie um zehn Prozent.[4] Die aus dem Mangel resultierende Preissteigerung hat zwar Russlands Einnahmen aus dem Düngemittelexport im selben Zeitraum um 70 Prozent in die Höhe schnellen lassen; sie lastet aber schwer auf dem Globalen Süden. Auch wenn die Preise inzwischen wieder etwas gesunken sind, liegen sie immer noch weit über dem langjährigen Mittel vor 2021. Das hat Folgen: Laut einer Studie, die an der University of Edinburgh erstellt wurde, haben Düngemittel- und Energiepreise einen viel stärkeren Einfluss auf die Getreidepreise als punktuelle Exportschranken wie die Aussetzung des Getreidedeals.[5]

Mit zweierlei Maß

Dass die westlichen Staaten sich beharrlich weigern, diejenigen Russland-Sanktionen, die Getreide- und Düngemittelexporte behindern, aufzuheben, stößt auch im Globalen Süden auf Kritik. In der Tat ist etwa die EU sehr wohl in der Lage, Lieferungen aus Russland und ein gewisses Maß an Kooperation problemlos zu gewährleisten – dort, wo sie selbst ein klares Interesse daran hat. So ist etwa die zivile atomare Kooperation von Firmen aus Russland und aus der EU von den Sanktionen ausgenommen und wird ohne Probleme fortgesetzt. Auch Nickel kann weiterhin aus Russland importiert werden; „weder Nornickel noch sein Hauptaktionär Wladimir Potanin wurden bisher mit EU-Sanktionen belegt, weil russische Nickellieferungen zurzeit nicht ersetzt werden können“, stellte vor kurzem die bundeseigene Außenwirtschaftsagentur Germany Trade & Invest (GTAI) fest.[6] Über die Druschba-Pipeline wird weiterhin russisches Erdöl in einige östliche EU-Staaten geliefert – dies sogar, obwohl die Leitung über ukrainisches Territorium führt. Kiew bezieht dafür Gebühren aus Moskau. Stillgelegt hat die Ukraine hingegen die Togliatti-Pipeline, die Ammoniak aus Russland nach Odessa leitet, um den globalen Düngemittelmarkt beliefern zu können; an ihr hat die EU kein Interesse, während ihre Stilllegung dem Globalen Süden deutlich schadet. Auch die im Süden fehlenden russischen Düngemittellieferungen interessieren die EU nicht.

Konkurrenz um Flüssiggas

Ebenso gleichgültig sind die EU-Staaten mit Blick auf die Folgen ihres Erdgasboykotts für den Globalen Süden. Diese lassen sich aus aktuellen Statistiken ablesen. Demnach führte der Ausstieg der EU-Staaten aus dem Bezug russischen Pipelinegases dazu, dass der Import von Flüssiggas (Liquefied Natural Gas, LNG) erheblich gesteigert werden musste. Deutschland war im vergangenen Jahr zunächst noch auf die LNG-Einfuhr vor allem über Belgien und Frankreich angewiesen, konnte dann aber noch im Dezember in Wilhelmshaven sein erstes eigenes Flüssiggasterminal in Betrieb nehmen. Der Schritt wurde mit großem Stolz über die neu gewonnene Unabhängigkeit von russischem Erdgas zelebriert. Wie aktuelle Statistiken der U.S. Energy Information Administration (EIA) zeigen, führten die Anstrengungen der Bundesrepublik und weiterer europäischer Staaten dazu, dass der gesamte LNG-Import des Kontinents um bemerkenswerte 65 Prozent stieg.[7] Zwar nahm auch der weltweite LNG-Export im vergangenen Jahr zu; die globale Steigerung um knapp fünf Prozent genügte freilich nicht, um den in die Höhe geschnellten Bedarf in Europa zu decken. Dies wiederum führte dazu, dass die wohlhabenden Staaten Europas in erbitterte Einkaufskonkurrenz mit ärmeren Ländern gerieten, in der letztere unterlagen und ihren Import stark reduzieren mussten. Dazu zählten vor allem mehrere Staaten Asiens.

Vom Markt gekauft

Besonders hart traf der mit großer Befriedigung verkündete Umstieg Europas auf Flüssiggas die Länder Südasiens; Indien, Pakistan und Bangladesch verloren zusammengenommen rund 18 Prozent ihrer LNG-Importe. Aus Pakistan etwa wurde Ende vergangener Woche gemeldet, dem Land sei es zum ersten Mal seit über einem Jahr gelungen, eine Flüssiggaslieferung auf dem Spotmarkt zu erwerben.[8] Zuvor scheiterte dies daran, dass die europäischen Staaten verfügbare Mengen vollständig vom Markt kauften. Sogar vertraglich fest zugesagte Importe blieben aus. So hat sich der italienische ENI-Konzern zwar eigentlich vertraglich verpflichtet, Pakistan von 2017 bis 2032 regelmäßig Flüssiggas zu liefern. Weil im vergangenen Jahr die Erdgaspreise in astronomische Höhen gestiegen waren, lohnte es sich für ENI aber recht oft, seinen Vertrag mit Islamabad zu brechen und LNG statt nach Pakistan nach Europa zu verkaufen; das rechnete sich, weil die Vertragsstrafe deutlich unter den in Europa erzielbaren Preisen lag. Berichten zufolge verdiente ENI damit 550 Millionen US-Dollar [9], während Pakistan wegen Erdgasmangels zeitweise Fabriken stilllegen und den privaten Konsum strikt beschränken musste (german-foreign-policy.com berichtete [10]). Eine Debatte darüber, ob es angemessen ist, im Rausch der Russland-Sanktionen fremde Länder ihrer Energieversorgung zu berauben, gibt es in Europa nicht.

 

Mehr zum Thema: Die Hungermacher (IV).

 

[1], [2] Lucy Handley: Ukraine’s corn and wheat exports are set to plummet. Here’s what that means for the world’s food supply. cnbc.com 20.04.2023.

[3] Laurin-Whitney Gottbrath: What Russia’s withdrawal from the grain deal means for the world. axios.com 18.07.2023.

[4] Shiba Teramoto: Russia Sees 70% Boost in Fertilizer Export Revenues Amid Price Increase in 2022. chemanalyst.com 13.02.2023.

[5] Peter Alexander: Further food price rises could cause up to 1 million additional deaths in 2023. theconversation.com 07.02.2023.

[6] Hans-Jürgen Wittmann: Europa kann Metallimporte aus Russland noch nicht völlig ersetzen. gtai.de 23.05.2023.

[7] Global liquefied natural gas trade volumes set a new record in 2022. eia.gov 05.07.2023.

[8] Ahmad Ahmadani: After year of failed attempts, Trafigura offers LNG shipment to Pakistan. pakistantoday.com.pk 14.07.2023.

[9] Italian power giant Eni earned $550mn by reneging on Pakistan LNG supply: report. brecorder.com 29.04.2023.

[10] S. dazu Nach uns die Sintflut.

Der Originalartikel kann hier besucht werden