Tunesien und die EU haben eine Absichtserklärung zur Fluchtabwehr unterzeichnet. Und mit keinem Wort die rechtswidrigen Massenabschiebungen durch tunesische Behörden und die massive Gewalt gegen Flüchtlinge und Migrant*innen erwähnt. Die EU zeigt erneut, dass sie bereit ist, wegzusehen, solange weniger Flüchtlinge in Europa ankommen.
Am Sonntag, den 16. Juli haben die Europäische Union und Tunesien eine Absichtserklärung zur Verhinderung von »irregulärer Migration« über das Mittelmeer unterzeichnet. Die rechtswidrigen Massenabschiebungen durch tunesische Behörden und die massive Gewalt gegen Flüchtlinge und Migrant*innen wurde dabei öffentlich mit keinem Wort erwähnt. Mit dem Deal unterstützt die EU das menschenrechtswidrige Handeln der tunesischen Regierung, das in den letzten Tagen mehrere Todesopfer gefordert hat, mit knapp einer Milliarde Euro.
Altbekannte Instrumente des EU-Abschottungsregimes
Die Inhalte des unterzeichneten Memorandums of Understanding bleiben recht vage: Migration wird als eine von fünf Säulen des Pakets genannt, für die zunächst 105 Millionen Euro zur Verfügung gestellt werden. Hier setzt der Deal primär auf die »Bekämpfung der irregulären Migration«, eine verstärkte »operative Partnerschaft gegen Menschenschmuggel und Menschenhandel«, die »Verbesserung der Koordinierung von Such- und Rettungsaktionen auf See«, eine »wirksame Grenzverwaltung« sowie auf die »Entwicklung eines Systems zur Identifizierung und Rückführung irregulärer Migrant*innen« aus Tunesien in ihre Herkunftsländer. Von legalen Fluchtwegen für Schutzsuchende im tunesischen Transit ist hingegen nirgendwo die Rede.
Die beiden Parteien sichern sich zudem gegenseitige Unterstützung bei der »Rückkehr und Rückübernahme von tunesischen Staatsangehörigen, die sich illegal in der EU aufhalten« sowie bei deren »sozioökonomischen Wiedereingliederung in Tunesien« zu. Zudem sollen legale Migrationswege gefördert werden, etwa durch Visaerleichterungen oder sogenannte »Talentpartnerschaften«.
Insgesamt lässt sich das Paket als ein Sammelsurium altbekannter Instrumente des EU-Abschottungsregimes lesen. Unter dem Deckmantel des Rettens von Menschenleben werden die Grenzauslagerung und die Verhinderung von Flucht und Migration vorangetrieben.
Die Europäische Union sagte darüber hinaus zu, sich um eine »angemessene zusätzliche finanzielle Unterstützung insbesondere für Anschaffungen, Ausbildung und technische Unterstützung, die für eine weitere Verbesserung des tunesischen Grenzschutzes erforderlich sind«, zu bemühen.
Tunesien bekräftigt in dem Memorandum erneut, kein Land zu sein, in dem sich Migrant*innen mit irregulärem Status niederlassen sollen. Es wiederholt auch seine in der Vergangenheit bereits geäußerte Position, nur seine eigenen Grenzen zu bewachen. Es werde kein Aufnahmezentrum für aus Europa abgeschobene Migrant*innen sein. Gemeint sind damit vor allem aus europäischen Staaten abgeschobene Flüchtlinge nicht-tunesischer Herkunft.
Insgesamt lässt sich das Paket als ein Sammelsurium altbekannter Instrumente des EU-Abschottungsregimes lesen. Unter dem Deckmantel des Rettens von Menschenleben werden die Grenzauslagerung und die Verhinderung von Flucht und Migration vorangetrieben. Die EU entledigt sich ihrer Verantwortung, indem sie Diktatoren zu Türstehern Europas macht.
Bei der Unterzeichnung in Tunis waren neben EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen erneut auch die Regierungschef*innen der Niederlande und Italiens anwesend. Die rechtsextreme italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni kündigte an, sie hoffe auf weitere ähnliche Abkommen mit anderen nordafrikanischen Ländern. Die deutsche Bundesregierung gratulierte in Person des Sonderbevollmächtigten für Migrationsabkommen, Joachim Stamp, zu diesem »wichtigen Schritt«.
KEIN HINDERUNGSGRUND: MASSENABSCHIEBUNGEN IN DIE WÜSTE
Zeitgleich zu der Unterzeichnung der Absichtserklärung »in a Team Europe spirit« in Tunis stecken nach den Massenabschiebungen durch tunesische Behörden in den letzten Wochen weiterhin Schutzsuchenden bei über 40 Grad in der Wüste fest. Es ist unklar, um wie viele Menschen es sich handelt. Fest steht jedoch, dass nicht alle Menschen zurück in die Städte gebracht wurden.
80 Schutzsuchende, die von tunesischen Behörden ohne Wasser und Nahrung in der Wüste ausgesetzt worden waren, wurden nun von libyschen Grenzbeamten aufgegriffen. Unter den Menschen befinden sich auch Frauen, Kinder und Babys. Aktivist*innen von Alarm Phone standen in den letzten Tagen ebenfalls Kontakt mit Menschen, die an der tunesischen Grenze in der Wüste ausgesetzt worden waren. Sie geben an, von libyschen Streifkräften misshandelt worden zu sein. In den letzten Tagen gab es immer wieder Videobotschaften von Betroffenen von der libysch-tunesischen Grenze (zum Beispiel hier und hier).
Der EU-Tunesien-Deal wird nicht zu weniger, sondern zu mehr Toten führen, da Fluchtrouten sich verschieben und noch gefährlicher werden.
Die EU-Kommission gibt an, mit dem EU-Tunesien-Deal weitere Tote auf dem Mittelmeer verhindern zu wollen. Dass Schutzsuchende stattdessen in der Sahara umkommen, scheint sie jedoch nicht zu stören.
Laut UNHCR sind in diesem Jahr bisher 76.325 Menschen mit Booten in Italien angelandet, im Vorjahreszeitraum waren es rund 31.900. Mehr als die Hälfte der Menschen, nämlich 44.151, kamen aus Tunesien. Aus Libyen legten 28.842 Menschen ab. Mindestens 1.895 Menschen ertranken allein dieses Jahr bei dem Versuch, über das Mittelmeer nach Europa zu kommen. Die Dunkelziffer ist hoch. Zu den Menschen, die jedes Jahr in der Sahara sterben, gibt es keine belastbaren Zahlen, man geht aber sogar von noch einer höheren Zahl an Toten aus, als im Mittelmeer.
Mit der gemeinsamen Absichtserklärung gibt die EU der brutalen Flüchtlingspolitik des autokratischen Ministerpräsidenten Kaïs Saïed bewusst Rückendeckung. Der EU-Tunesien-Deal wird nicht zu weniger, sondern zu mehr Toten führen, da Fluchtrouten sich verschieben und noch gefährlicher werden. Die EU zeigt damit erneut, dass sie bereit ist, jeden menschenrechtlichen Preis zu zahlen, damit weniger Flüchtlinge in Europa ankommen.
(hk)
Der Originalartikel kann hier besucht werden