Nur wenige Menschen kennen die wahre Realität unbegleiteter ausländischer Minderjähriger, in Spanien meist als MENAs abgekürzt (Menores Extranjeros No Acompañados). Die Gruppe der MENAs leidet täglich unter Stigmen, Vorurteilen und fremdenfeindlichen Meinungen. Der Lehrer Manuel Carmona (geboren 1976 in Rota, Spanien) wollte ein fiktives Zeugnis ablegen – das absolut real sein könnte – über einen minderjährigen Migranten, der sich entscheidet, nach einer besseren Welt und neuen Möglichkeiten zu suchen. Ziel des Autors ist es, die wahre Realität dieser jungen Menschen sichtbar zu machen, Stigmen abzubauen und Empathie und Solidarität zwischen verbrüderten Völkern zu suchen. Wir sprachen mit ihm bei der Präsentation seines Buches in Jerez de la Frontera, in der Bibliothek der anarchosyndikalistischen Gewerkschaft CNT, auf einer vom Dimbali-Netzwerk organisierten Veranstaltung .
In Ihrem Buch, das einen sehr expliziten Titel und Cover hat, erzählen Sie die Reise von Youssef, einem der vielen minderjährigen Migrant*innen, die die Meeresenge überqueren und in Spanien enden, auf der Suche nach einem besseren Leben. Woher kam Ihre Inspiration, und wie viel Realität hat diese Geschichte?
In meiner Erfahrung als Erzieher in Kinderschutzzentren habe ich viele Geschichten kennen gelernt, wie sie im Buch erzählt werden. In all diesen Geschichten gibt es gemeinsame Muster: Der gemeinsame Faktor aller Minderjährigen ist ihre sozioökonomische Herkunft. Alle, die ich kennen gelernt habe, sind von sehr bescheidener Herkunft, Jungen die versuchen, sich eine Zukunft zu schaffen und der Armut zu entfliehen. Die „Zwischenfälle“, die der Protagonist des Romans durchläuft, geschehen häufiger, als man denkt. Der Satz unter dem Titel des Covers ist nicht von mir, aber ich hebe ihn hervor, wann immer ich kann: „Wir haben alle unterschiedliche Geschichten, aber sie sind alle die gleiche Geschichte.“ Ein Minderjähriger hat ihn mir eines Abends beim Geschirrspülen gesagt. Ein anderer Junge erzählte mir gerade alles, was er durchmachen musste, um nach Spanien zu kommen: Seine Herkunft, seine Motivationen, seine Träume usw. Der Minderjährige, der neben mir spülte, hat dann diesen Satz gesagt. Er schien mir sehr zutreffend zu sein, denn es stimmt, dass sich viele Geschichten wiederholen. Wie gesagt, dies ist ein Roman und daher eine Fiktion. Aber es ist eine Fiktion, die viel Realität enthält.
Wie kann man das Stigma gegen minderjährige Migrant*innen und den reaktionären rechtsextremistischen Diskurs, der sie mit der Kriminalität in den Großstädten in Verbindung bringt, umkehren?
Der Titel des Buches geht in diese Richtung. Die extreme Rechte hat das Akronym M.E.N.A. benutzt, um alleinstehende Kinder als übliche Schuldige für eine Reihe von Straftaten zu präsentieren. Dieser Roman versucht, die Realität hinter dem Akronym aufzeigen: die Geschichten von Kindern, die auf der Suche nach einer besseren Zukunft vor der Armut fliehen. Das Buch soll den Verstummten eine Stimme geben, denen, die keine Stimme haben, denen, die in den Nachrichten nur kriminalisiert werden. Diese Stigmatisierung betrifft Tausende von Kindern, aber Straftaten werden von nur wenigen begangen. Kurz gesagt, es geht darum, den Niemanden eine Stimme zu geben, wie Galeano sagen würde. Der Diskurs der extremen Rechten basiert auf Angst, und Angst nährt sich aus Unwissenheit. Diesen Minderjährigen ein Gesicht und eine Geschichte zu geben, deaktiviert die Angst, lässt uns Empathie für das Leiden anderer empfinden und deaktiviert Hassreden.
Wie würden Sie einer Nachbarin erklären, was die Ursachen für die Ankunft junger Migrant*innen in Europa sind und wie diese Ursachen im Hinblick auf Politik und internationale Zusammenarbeit angegangen werden sollten?
Diese Frage ist sehr interessant, denn jede Entscheidung, die wir treffen, ist Teil einer früheren Geschichte, und diese Geschichte wird diesen Kindern verweigert in dem Moment, in dem wir sie als „MENA“ bezeichnen. Deshalb beginnt der Roman lange bevor der Protagonist die Entscheidung trifft, nach Europa zu kommen, damit die Leser*innen die Beweggründe hinter dieser Entscheidung kennenlernen und damit sie wissen, dass viele von uns in dieser Situation dasselbe tun würden. Wie ich bereits sagte, stammen diese Kinder aus den ärmsten Schichten ihrer Gesellschaft, daher werden sie von ihren eigenen Regierungen im Stich gelassen, und ihre Zukunftsaussichten sind wenig schmeichelhaft. Nur die Verbesserung der Lebensbedingungen an ihrem Herkunftsort würde verhindern, dass diese Kinder ihr Leben riskieren, um hierher zu kommen.
Ein Minderjähriger unter 16 sagte mir einmal: „Glaubst du, dass ich mein Leben riskiert hätte, um hierher zu kommen, wenn ich eine Chance auf eine bessere Zukunft in meinem Land gehabt hätte? Es ist sehr schwer, von meinen Eltern und meinen Geschwistern getrennt zu sein, Manuel, aber ich kämpfe hier, um mein Ziel zu erreichen“.
Welches Risiko sehen Sie in einer möglichen Regierung von PP und Vox für die Situation der minderjährigen Migrant*innen?
Die jungen Migrant*innen sind der Sündenbock. Aber man kann „Mena“ und „Jude“ austauschen, und der Diskurs wird plötzlich schrecklich vertraut. Die von ihnen vorgeschlagenen Maßnahmen sind wirtschaftlich, rechtlich und materiell nicht durchführbar; reine Demagogie.
Welche Rolle spielt Ihrer Meinung nach Literatur bei der Sensibilisierung und dem Verständnis für die Situation der jungen Migrant*innen in Europa, und wie trägt Ihr Buch Ihrer Meinung nach zu diesem Ziel bei?
Wie jeder künstlerische Ausdruck hat auch die Literatur die Verpflichtung, zu bewegen, eine Art von Lernen zu ermöglichen, Realitäten sichtbar zu machen und uns zum Nachdenken zu bringen. Die Situation ist für jedes Kind anders, aber ich könnte Ihnen Hunderte von Geschichten erzählen mit einem „Happy End“, und viele andere mit einem traurigen Ende. Mein Ziel ist es, wie gesagt, diese Realität sichtbar zu machen.
„Derzeit sind die minderjährigen Migrant*innen nicht frei von ihren Stigmen und dazu verdammt, nach Beendigung ihrer legalen Vormundschaft durch die Straßen zu ziehen.“
Öffentliche Einrichtungen sollten minderjährigen Migrant*innen Schutz und Unterbringung bieten, bis sie sich selbst versorgen können; zur Zeit sind sie jedoch nicht frei von ihren Stigmen und dazu verdammt, nach Beendigung ihrer legalen Vormundschaft durch die Straßen zu ziehen.
Das Kinderschutzsystem weist viele Lücken auf. Ich kritisiere scharf die Art und Weise, wie die Dinge gemacht werden, den Mangel an Ressourcen, die wir Fachleute haben, um unsere Arbeit zu machen, die Instabilität der Arbeitsplätze in diesem Bereich und vieles andere. Oft ist es offensichtlich, dass die Entscheidungsträger*innen in ihrem Leben noch kein Kinderschutzzentrum betreten haben und „Protokolle“ entwerfen, die nicht der Realität entsprechen. Der Eindruck ist, dass das Ziel der Behörden darin besteht, „dass es keine Skandale gibt“, die Situation zu verschleiern und über dieses Problem möglichst wenig zu reden.
Wie war der Prozess der Ausarbeitung und des Schreibens des Buches?
Die Idee hatte ich schon lange im Kopf und ich musste sie mitteilen. Schreiben ist ein langsamer Prozess, der mit Arbeit, Familie, Pflichten usw. kombiniert werden muss. Ein Großteil dieses Buches wurde in Nachtschichten geschrieben. Es war, als würde ich einen Film beschreiben, den ich in mir sah. Ich brauchte etwa zwei Jahre, um das Buch fertig zu stellen. Mit dem Verlag Hilos de Emociones war alles großartig, es ist das dritte Werk, das ich mit ihnen nach La Realidad Escondida und Viaje al Centro del Olvido veröffentliche. Ich bin sehr zufrieden mit ihrer Professionalität; ich finde die Ausgabe außergewöhnlich.
Haben Sie bei der Recherche und dem Verfassen des Manuskripts überraschende oder aufschlussreiche Aspekte über die Situation junger Migrant*innen in Europa gefunden, die Sie vorher nicht kannten?
Der Forschungsprozess fällt mit der Ausübung meines Berufs zusammen. Ich kenne diese Kinder, ihre Geschichten, ihre Träume, ihre Ängste, ihre Beziehung zu ihren Familien in der Ferne… Viele dieser jungen Menschen sind heute Freunde von mir und andere habe ich aus den Augen verloren. Ihr Hauptproblem entsteht, wenn sie erwachsen werden. Mit einer Ausbildung, die wir als knapp bezeichnen könnten, müssen sie auf dem Arbeitsmarkt mit allen Arbeitsuchenden konkurrieren, die eine ganz andere Geschichte haben. Viele erreichen ihre Ziele, und viele scheitern bei diesem Versuch. Aber ohne Zweifel sind das alles Geschichten, die es verdienen, bekannt zu werden, denn schließlich sind sie unsere Nachbarn und leben bei uns.