NATO-Gipfel beschließt konkrete Operationspläne für etwaigen Krieg gegen Russland. Um die Aufrüstung dafür zu ermöglichen, muss viel stärker gerüstet werden. Ukraine erhält keine NATO-Beitrittszusage, aber Sicherheitsgarantien.

Mit neuen Aufrüstungsverpflichtungen und der Einigung auf konkrete Operationspläne für einen möglichen Krieg gegen Russland ist am gestrigen Mittwoch der NATO-Gipfel in Vilnius zu Ende gegangen. Beschlossen wurden unter anderem drei Teilpläne, die das militärische Vorgehen im Kriegsfall getrennt nach drei Regionen skizzieren: einer für den Nordatlantik, ein zweiter für Deutschland und die Ostsee plus Anrainer, ein dritter für Südeuropa und das Schwarze Meer. Um ausreichend Waffen bereitstellen zu können, hat die NATO für die Militärhaushalte der Mitgliedstaaten eine Schwelle von zwei Prozent der Wirtschaftsleistung als Mindestbetrag beschlossen; schon im vergangenen Jahr nahmen die Wehretats der europäischen NATO-Staaten und Kanadas um 8,3 Prozent zu. Gewaltige Summen sollen auch weiterhin in die Aufrüstung der Ukraine gesteckt werden: Sicherheitsgarantien, die die G7-Staaten Kiew gestern zusagten, sehen die fortgesetzte Bewaffnung des Landes im großen Stil vor. Sie enthalten zudem umfassende Hilfe zum Wiederaufbau. Eine feste Beitrittszusage von der NATO, die der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj gefordert hatte, erhielt Kiew nicht.

„Fast die gesamte Bundeswehr“

Bekräftigt hat die NATO auf ihrem Gipfel in Vilnius ihr neues Streitkräftemodell (NATO Force Model), das bereits auf dem NATO-Gipfel vom 28. bis zum 30. Juni 2022 in Madrid beschlossen worden war. Demnach sollen 300.000 Soldaten aus NATO-Mitgliedstaaten stets in hoher Bereitschaft gehalten werden; 100.000 von ihnen sollen binnen zehn, 200.000 binnen 30 Tagen eingesetzt werden können. Die Bundesregierung hatte damals zugesagt, die Bundeswehr werde rund 30.000 Soldaten in hoher Bereitschaft halten, die über 85 Schiffe und Flugzeuge verfügten. Im Ernstfall könnten sogar mehr deutsche Soldaten zur Verfügung gestellt werden. Das Bundesverteidigungsministerium räumte im Juli 2022 ein: „Insgesamt umfasst das New Force Model nahezu die gesamten deutschen Streitkräfte.“[1] Zentrale Elemente der Planung sind acht NATO-Battlegroups, die in einem weiten Bogen um Russlands Westen liegen und deren Standorte von Estland, Lettland und Litauen über Polen, die Slowakei und Ungarn bis nach Rumänien und Bulgarien reichen. Sie können je nach strategischer Lage bis auf Brigadestärke aufgestockt werden. Die Bundeswehr wird künftig eine solche Brigade in Litauen stellen; dabei sollen die deutschen Soldaten nicht rotieren, sondern dauerhaft in dem Land stationiert sein.[2]

„Wie wir kämpfen wollen“

In Vilnius hat die NATO zudem neue Verteidigungspläne beschlossen. Dabei handelt es sich laut einem NATO-Mitarbeiter um „operative[…] Kriegspläne, die beschreiben, wie wir kämpfen wollen“.[3] Berichten zufolge umfassen die streng geheim gehaltenen Pläne gut 4.000 Seiten. Sie sind in zweifacher Hinsicht aufgegliedert. Zum einen beziehen sie die fünf Dimensionen heutiger Kriegführung ein – Land, Luft, See, Welt- und Cyberraum. Zum anderen sind sie geografisch in drei riesige Regionen geteilt. Die erste von ihnen erstreckt sich demnach von Nordamerika über den Atlantik und Großbritannien bis in den Hohen Norden; ihr zuständiges Hauptquartier liegt in Norfolk (US-Bundesstaat Virginia).[4] Die zweite Region umfasst Deutschland, das nördliche Europa und insbesondere die Ostsee und die an sie grenzenden Staaten; das zugehörige Hauptquartier befindet sich in Brunssum in den Niederlanden. Die dritte Region mit Hauptquartier in Neapel umfasst Südeuropa vor allem mit dem Mittel- und dem Schwarzen Meer. Wie berichtet wird, begann die Erstellung der Pläne bereits im Jahr 2018, also lange vor Russlands Angriff auf die Ukraine.[5] Nach dem formellen Beschluss in Vilnius, die neuen Verteidigungspläne umzusetzen, wird ab sofort mit den praktischen Vorbereitungen begonnen.

Immer mehr rüsten

Das neue Streitkräftemodell und die neuen Verteidigungspläne erfordern, wie die NATO konstatiert, eine massive Aufrüstung. Deshalb haben sich die Bündnismitglieder in Vilnius verpflichtet, in Zukunft mindestens zwei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts (BIP) in ihre Streitkräfte zu investieren, davon wiederum mindestens ein Fünftel in „größere Ausrüstung“. Zuweilen werde es erforderlich sein, mehr als zwei Prozent des BIP in den Militäretat zu stecken, heißt es in der Gipfelerklärung – nicht zuletzt deshalb, weil die NATO ihren „technologischen Vorsprung“ sichern müsse.[6] Im laufenden Jahr haben aktuellen Angaben zufolge elf Bündnisstaaten die Zwei-Prozent-Schwelle bereits überschritten, darunter Griechenland (3,01 Prozent), die Vereinigten Staaten (3,49 Prozent) und Polen (3,9 Prozent). Die Bundesrepublik liegt bei 1,57 Prozent, muss schon jetzt bei der Kindergrundsicherung sparen, bekräftigt aber, den Wehretat um die erforderliche zweistellige Milliadensumme pro Jahr aufstocken zu wollen. Um die gewünschte Aufrüstung sicherzustellen und nach Möglichkeit zu koordinieren, hat die NATO einen Defence Production Action Plan erstellt, auf den die Gipfelerklärung erneut hinweist.[7] Er soll insbesondere die notwendigen „verteidigungsindustriellen Kapazitäten“ zu schaffen helfen.

Kein NATO-Beitritt

Dominiert haben den NATO-Gipfel die erbittert geführten Auseinandersetzungen um die NATO-Perspektive der Ukraine. Durchgesetzt haben sich die USA und die Bundesrepublik, die sich gegen eine feste Beitrittszusage, vor wie auch nach Kriegsende, positioniert hatten. In der Gipfelerklärung heißt es nun weitgehend unverbindlich, „die Zukunft“ der Ukraine liege „in der NATO“. Dazu wird auf die Erklärung des NATO-Gipfels vom April 2008 verwiesen, auf dem der Ukraine und Georgien grundsätzlich die NATO-Mitgliedschaft in Aussicht gestellt, aber nichts konkretisiert worden war; in den 15 Jahren seither ist die Ukraine einem Beitritt nicht wirklich nähergekommen. Um jeden Anschein eines etwaigen Beitrittsautomatismus zu meiden, heißt es in der Gipfelerklärung, man werde der Ukraine „eine Einladung“ zukommen lassen, „wenn die Verbündeten zustimmen“.[8] Der Präsident der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, hat öffentlich mit heftigem Unmut reagiert und der NATO „Unschlüssigkeit“ und „Schwäche“ vorgeworfen.[9] Gestern haben die G7-Staaten Kiew als Ersatz für die ausgebliebene NATO-Beitrittszusage Sicherheitsgarantien zugesagt, die jeweils noch bilateral verbindlich festgezurrt werden sollen. Die Bundesrepublik ist in vollem Umfang an den Maßnahmen beteiligt.

Sicherheitsgarantien

Im Detail sehen die Sicherheitsgarantien dreierlei vor. Zum einen soll die Ukraine mit aller Macht hochgerüstet werden. Dazu zählt die Lieferung von Panzern und Flugabwehr, von Artillerie „und anderen Schlüsselfähigkeiten“.[10] Dies ist mit einer massiven Ausweitung der Rüstungsproduktion auch in Deutschland verbunden. Zudem soll die rüstungsindustrielle Basis der Ukraine ausgebaut werden. Damit ist unter anderem der deutsche Rheinmetall-Konzern befasst (german-foreign-policy.com berichtete [11]). Auch Militärausbildung und gemeinsame Manöver sollen intensiviert werden. Zum zweiten soll die Ukraine ökonomisch stabilisiert und widerstandsfähig gemacht werden. Dazu gehört besonders der Wiederaufbau des kriegszerstörten Landes. Weithin wird dafür eine wohl dreistellige Milliardensumme veranschlagt. Zum dritten stellen die G7 Kiew unmittelbare Unterstützung technischer wie auch finanzieller Art in Aussicht. Letzten Endes soll die Ukraine so in die Lage versetzt werden, sich gegen einen künftigen erneuten Angriff selbst zu verteidigen – als ein ausgeblutetes und verarmtes, aber waffenstarrendes Land.

 

[1] New Force Model: Wie Deutschland sich ab 2025 in der NATO engagiert. bmvg.de 25.07.2022.

[2] S. dazu Einflusskampf im Baltikum.

[3], [4] Thomas Gutschker: Schweden darf rein, die Ukraine muss warten. Frankfurter Allgemeine Zeitung 12.07.2023.

[5] María R. Sahuquillo, Andrea Rizzi: The dilemma of Ukraine’s accession and other keys to a NATO summit near Russia. english.elpais.com 10.07.2023.

[6] Vilnius Summit Communiqué. Issued by NATO Heads of State and Government participating in the meeting of the North Atlantic Council in Vilnius 11 July 2023.

[7] S. dazu Das Jahr der Rüstungsindustrie.

[8] Vilnius Summit Communiqué. Issued by NATO Heads of State and Government participating in the meeting of the North Atlantic Council in Vilnius 11 July 2023.

[9] Selenskyj: Unschlüssigkeit der Nato „absurd“. zdf.de 11.07.2023.

[10] Joint Declaration of Support for Ukraine. gov.uk 12.07.2023.

[11] S. dazu Eine rüstungsindustrielle Basis für die Ukraine und „Voraussetzungen für den Sieg“.

Der Originalartikel kann hier besucht werden