Was ist das: Niemand kann es dir geben, es sei denn, du willst es?
Ein Feind.
Das sollte sowohl im persönlichen als auch im internationalen Sinne gelten.
In deinem persönlichen Leben erwirbst du dir Feinde, indem du sie dir suchst und dich dafür entscheidest, sie zu haben. Und wenn wer ohne dein Verschulden grausam zu dir ist, hast du immer noch die Möglichkeit, dich im Gegenzug nicht grausam zu verhalten. Du hast sogar die Möglichkeit, im Gegenzug nichts Grausames zu denken. Diese Option kann extrem schwierig sein. Vielleicht hältst du sie für nicht erstrebenswert – aus welchem Grund auch immer. Vielleicht hast du 85.000 Hollywood-Filme gesehen, in denen Rache das höchste Gut ist, oder was auch immer. Wesentlich ist nur, dass es eine Option ist. Es ist nicht unmöglich.
Wenn du es ablehnst, eine Person als Feind zu betrachten, führt das oft dazu, dass sie dich auch nicht als Feind betrachtet. Vielleicht tut sie es aber doch. Wieder geht es nur darum: du hast die Möglichkeit, niemanden auf der Welt als Feind zu betrachten.
Als der Friedensaktivist David Hartsough ein Messer an der Kehle hatte und seinem Angreifer sagte, er werde versuchen, ihn zu lieben, egal was passiere, und das Messer fallen gelassen wurde, konnte es sein, dass der Angreifer aufhörte, David als Feind zu betrachten. Es mag sein, dass David es geschafft hat, ihn zu lieben. David hätte leicht getötet werden können. Aber auch hier geht es nur darum, dass du selbst mit einem Messer an der Kehle die Kontrolle über deine Gedanken und Taten hast, und nicht jemand anderes. Wenn du nicht akzeptierst, dass du einen Feind hast, hast du keinen Feind.
Ein Sandinistenführer namens Tomás Borges wurde von der Somoza-Regierung in Nicaragua gezwungen, die Vergewaltigung und Ermordung seiner Frau und die Vergewaltigung seiner 16-jährigen Tochter zu erdulden, die später Selbstmord beging. Er wurde jahrelang inhaftiert und gefoltert, neun Monate lang mit einer Kapuze über dem Kopf und sieben Monate lang in Handschellen.
Als er später seine Peiniger gefangen nahm, sagte er ihnen: „Die Stunde meiner Rache ist gekommen: Wir werden euch nicht das geringste Leid antun. Ihr habt uns vorher nicht geglaubt, jetzt werdet ihr uns glauben. Das ist unsere Philosophie, unsere Art zu sein.“
Vielleicht verurteilst du diese Entscheidung. Oder du hältst sie für zu schwierig. Oder du denkst, dass du etwas widerlegt hast, indem du auf die Gewalttätigkeit der Sandinisten hinweist. Der Punkt ist aber, dass du – egal, was dir jemand angetan hat – es zu deiner Ehrensache machen kannst, dieses abstoßende Verhalten NICHT mit Gleichem zu vergelten, sondern deine eigene, bessere Art zu leben zu vertreten – wenn du willst.
Wenn Familien von Mordopfern in den Vereinigten Staaten dafür plädieren, sich dem überwiegenden Teil der Welt anzuschließen und die Todesstrafe abzuschaffen, entscheiden sie sich dafür, nicht die Feinde zu haben, die ihre Kultur von ihnen erwartet. Es ist ihre Entscheidung. Und es ist eine, die sie als politisches Prinzip anwenden, nicht nur als persönliche Beziehung.
Wenn wir zu den internationalen Beziehungen kommen, wird es natürlich dramatisch einfacher, keine Feinde zu haben. Eine Nation hat keine Gefühle. Sie existiert nicht außer als abstraktes Konzept. Der Vorwand, Menschen seien nicht in der Lage, sich besser zu verhalten oder besser zu denken, kann also nicht einmal ansatzweise ernst genommen werden. Außerdem sind die allgemeinen Regeln, dass Feinde ausgesucht werden müssen, und dass ein respektvoller Umgang mit anderen Menschen von diesen erwidert wird, viel konsequenter. Auch hier gilt: Es gibt Ausnahmen und Anomalien und keine Garantien. Auch hier geht es nur darum, dass eine Nation sich dafür entscheiden kann, andere Nationen nicht als Feinde zu behandeln – es geht nicht darum, was diese anderen Nationen tun könnten. Aber man kann ziemlich sicher sein, was sie tun werden.
Die US-Regierung ist immer sehr darauf erpicht, so zu tun, als hätte sie Feinde, zu glauben, dass sie Feinde hat, und Nationen hervorzubringen, die sie tatsächlich als Feind betrachten. Ihre Lieblingskandidaten sind China, Russland, Iran und Nordkorea.
Selbst wenn man die kostenlosen Waffenlieferungen an die Ukraine und verschiedene andere Ausgaben nicht mitzählt, sind die Militärausgaben der USA so enorm (wie sie von diesen Feinden gerechtfertigt werden), dass Chinas Ausgaben 37 %, diejenigen Russlands 9 % und diejenigen Irans ganze 3 % der US-Ausgaben betragen, und diejenigen Nordkoreas sind zwar geheim gehaltene, aber relativ winzige Ausgaben. Pro Kopf betrachtet liegen die Ausgaben Russlands bei 20%, Chinas bei 9% und Irans bei 5% der US-Ausgaben.
Dass die USA diese Billig-Militärs als Feinde fürchten, ist so, als würdest du in einer Stahlfestung leben und dich vor einem Kind mit einer Wasserpistole fürchten. Allerdings handelt es sich um internationale Abstraktionen, und es wäre nicht entschuldbar, zuzulassen, dass diese Abstraktionen durch Ängste verfälscht würden – selbst wenn diese Ängste nicht so lächerlich wären.
Aber die obigen Zahlen untertreiben die Ungleichheit massiv. Die Vereinigten Staaten sind kein Land. Sie sind nicht allein. Sie sind ein militärisches Imperium. Nur 29 von etwa 200 Staaten der Erde geben für Kriege auch nur 1 Prozent dessen aus, was die USA dafür ausgeben. Von diesen 29 sind sage und schreibe 26 Käufer von US-Waffen. Viele von ihnen, und auch viele mit kleineren Budgets, erhalten kostenlos US-Waffen und/oder Training und/oder haben US-Stützpunkte in ihren Ländern. Viele von ihnen sind Mitglieder der NATO und/oder des AUKUS und/oder haben geschworen, auf Geheiß der USA selbst in den Krieg zu ziehen. Die anderen drei – Russland, China und der Iran (plus das geheimnisvolle Nordkorea) – haben es nicht mit dem Militärhaushalt der USA zu tun, sondern mit dem gemeinsamen Militärhaushalt der USA und ihrer Waffenkunden und Verbündeten (abzüglich etwaiger Überläufer oder Anfälle von Unabhängigkeit). So gesehen gibt China für Kriege nur 18% dessen aus, was die US-Kriegsmaschinerie ausgibt, Russland 4% und der Iran 1%. Auch wenn du so tust, als seien diese Länder die „Achse des Bösen“, oder sie gegen ihren Willen in ein Militärbündnis zwingst, kommen sie zusammen doch nur auf 23 % der Militärausgaben der USA und ihrer Verbündeten oder 48 % der Ausgaben der USA allein.
Diese Zahlen sprechen für eine Unfähigkeit, ein Feind zu sein, aber dazu fehlt auch jegliches feindliche Verhalten. Die USA haben zwar Militärbasen, Truppen und Waffen rund um diese erklärten Feinde stationiert und sie bedroht, aber keiner von ihnen hat auch nur eine Militärbasis in der Nähe der Vereinigten Staaten, und keiner hat die Vereinigten Staaten bedroht. Die USA haben erfolgreich auf einen Krieg mit Russland in der Ukraine hingearbeitet, und Russland hat den Köder schändlicherweise geschluckt. Die USA sind auf einen Krieg mit China in Taiwan aus. Aber sowohl die Ukraine als auch Taiwan wären viel besser dran gewesen, wenn man sie in Ruhe gelassen hätte, und weder die Ukraine noch Taiwan ist die USA.
Natürlich soll man in internationalen Angelegenheiten, noch mehr als in persönlichen, davon ausgehen, dass jede Gewalt, die von der eigenen Seite ausgeübt wird, der Verteidigung dient. Aber es gibt ein stärkeres Mittel als Gewalt, um eine angegriffene Nation zu verteidigen, und zahlreiche Mittel, um die Wahrscheinlichkeit von Angriffen zu verringern.
Sich auf das mögliche Auftauchen von Feinden vorzubereiten, kann also nur für eine Regierung sinnvoll sein, die prinzipiell Feinde will und sich dementsprechend organisiert.
Übersetzung aus dem Englischen von Domenica Ott vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!