Quatsch reimt sich auf Matsch. Und Europa auf Opa.
Das sollte Provokation genug sein. Ist es aber nicht, leider. Irgendwann war ich katholisch. Dann kamen Zweifel. Und dann trat ich aus der Kirche aus. Irgendwann war ich Deutscher. Dann kamen Zweifel und ich wurde Europäer. Dann trat ich auch aus dieser Kirche aus.
Europa – eine Religionsgemeinschaft?
Dass es sich beim Europagedanken um eine „Kirche“ handelt, riecht abermals nach Provokation, ist aber keine, sondern die Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Ich sollte das begründen. Was ist eine Kirche? Ich denke dabei nicht an die Gebäudeform, sondern an das, was Wikipedia als „Religionsgemeinschaften einer christlichen Konfession“ bezeichnet; hier natürlich im Sinne einer Metapher. Was nahtlos an jene Politikersprüche anknüpft, die von den christlichen Grundlagen des Abendlandes sprechen. Am liebsten hätte ich „faseln“ geschrieben, aber ich verkneife mir das aussagekräftige Verb.
Aber weiter: Religionsgemeinschaften – so auch die der Europäer – tendieren zum Anspruch auf universelle Wahrheit. Sie betrachten sich als die Trägerinnen letzter, nicht hinterfragbarer Erkenntnis und sind bereit zu töten, also auch dafür in den Krieg zu ziehen. Seit ca. 1.000 Jahren haben sie das getan und tun es bis heute. Pocht aber Europa auf letzte Wahrheiten, wie das Religionsgemeinschaften tun, so handelt es sich bei Europa nicht um das gerne als „freisinnig“ vorgeschützte Europa, sondern bestenfalls um einen Zerrspiegel des europäischen Gedankens der Toleranz, wie er beispielsweise von Lessing verfochten wurde. Der kann sich aber seit 250 Jahren nicht mehr zu Wort melden. Und täte er es, würde er schleunigst seinen Job in Herzog Augusts Wolfenbütteler Bibliothek verlieren. Die heutigen Fürsten sind nicht mehr so tolerant wie manche ihrer Vorväter.
Europa – ein geografisches Unding
Damit sind wir dem europäischen Paradox auf der Spur. Der Widersinn gipfelt in der Tatsache, dass der 2012 mit dem Friedensnobelpreis geadelte Kontinent zehn Jahre später, ohne mit der Wimper zu zucken, den Krieg als geeignete Fortsetzung von Politik mit anderen Mitteln betrachtet. Es gibt Menschen, die darüber staunen. Doch so unverständlich ist das alles nicht. Es gibt Europa nämlich gar nicht. Eben deshalb lässt sich der Begriff mit mehr oder weniger beliebigen Inhalten füllen.
Wie? Was ist das nun wieder für eine Behauptung? Betrachten wir nur einmal Gebiete wie Grönland (Dänemark, aber Teil Nordamerikas), die Kanaren (Spanien, aber Teil Afrikas), die Falklandinseln oder Guadeloupe (britisch bzw. französisch, aber Teile Südamerikas). Gehören sie zu Europa oder nicht? Es lässt sich so oder so argumentieren, aber das spielt hier keine Rolle; sie alle sind nicht nur Ergebnis des Kolonialismus, sondern auch Ausdruck des bis heute andauernden postkolonialen Denkens. Großbritannien war sogar bereit – unter großem Applaus seiner Bevölkerungsmehrheit – gegen Argentinien, das die Falklands für sich beanspruchte, Krieg zu führen – nicht vor langer, langer Zeit, sondern 1982. Für die Briten kein großes Ding, von den rund 900 toten Soldaten waren 649 Argentinier, also Feinde und insofern belanglos im Vergleich zu den bedeutenden Ölfeldern, die man vor den Falklands gefunden hatte.
Zurück zum geografischen Begriff Europas. Amerika, das lässt sich eindeutig definieren, Australien und Afrika ebenso. Doch Europa eben nicht. Wo Europa im Osten endet und Asien beginnt, weiß niemand und will auch niemand so genau wissen. Ist Israel ein Teil Asiens oder Europas? So manche Geografinnen sprechen ob solcher Wirrnis lieber vom eurasischen Kontinent. Europa endet also genau da, wo es den Zeitläuften gerade opportun erscheint. Mit einfacheren Worten: Europa lässt sich geografisch nicht definieren und existiert folglich nicht als Kontinent, sondern als Idee. Dass es Europa nicht gibt, ist also kein weit hergeholter Gedanke.
Wenigstens ein bisschen Herrenmensch
Warum aber hat sich dann Europa wie eine mentale Zecke derart in unseren Köpfen festgebissen? Dazu muss man nur kurz eine Geschichtslektion wiederholen: Dass nämlich Mittel- und Südamerika spanisches bzw. portugiesisches Kolonialgebiet waren und Nordamerika britisches bzw. französisches. Hätten sich die dortigen Politiker in der Neuen Welt – übrigens allesamt Sklavenhalter – nicht gegen den Imperialismus ihrer „Mutterländer“ gewehrt, so wäre Amerika bis heute ein kolonialer Teil Europas. Bei dieser Betrachtung geht es mir vor allem um den Anspruch, mit dem die Europäer dort ehemals auftraten: Dass sie die Herren der Welt seien, mächtig dank fortschrittlichem Mordgerät. Und so, wie die meisten Fans von Bayern München deswegen Fans sind, weil diese Mannschaft (warum auch immer) so erfolgreich ist, waren die europäischen Bevölkerungen Fans ihrer meuchelnden Handelsgesellschaften und Regierungen, denn Erfolg konnte man ihnen beim besten Willen nicht absprechen. Und nicht nur das: Pracht und Reichtum europäischer Städte lassen sich ohne sonderliche Mühe auf eine Zeit zurückverfolgen, in der das europäische Großbürgertum mit Aktien im Sklavenhandel enorme Reichtümer erwirtschaftete. Für Jahrhunderte konnten sich Europäer als Herrenmenschen fühlen. Und wer möchte nicht gerne ein Herrenmensch sein, wenigstens ein bisschen! Seinen Höhepunkt fand dieses eitle Selbstbewusstsein übrigens im Tausendjährigen Reich. Dazu sei kurz angemerkt: In Großbritannien wurde ernsthaft – und in gewisser Weise historisch konsequent – darüber diskutiert, ob man sich nicht mit dem Führer zwecks Weltherrschaft verbünden sollte. Erst eine Rede Churchills, die unter dem Titel „Die dunkelste Stunde“ berühmt wurde, machte der unrühmlichen Debatte ein Ende.
„… dem Frieden der Welt zu dienen“
Aber zurück zum Anfang: Europa ist Quatsch, weil der europäische Gedanke, so schön er in manchen Aspekten der Romantikerin erscheinen mag, historisch und bis heute Ausdruck einer gnadenlosen – oft blut- und rassenideologisch begründeten – Überheblichkeit war, die in ihrer Folge Millionen und Abermillionen von Toten im Kauf nahm und, unter neuen Vorzeichen, wieder in Kauf nimmt. Umso interessanter ist der Vorspann des Grundgesetzes, in dem Deutschland sich verbürgt, „in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“. Solchen Widersprüchen kann allenfalls entrinnen, wer sein Europäerinnentum an den Nagel hängt und sich zum Weltbürgerinnentum bekennt. Das ist zugegebenermaßen ein mehr als unscharfer Begriff (und folglich ein spannendes Thema), aber wenigstens keiner, der auf eine exklusive Minderheit zutrifft, die wir Bewohnerinnen Europas im Weltmaßstab nun einmal darstellen. Sollten wir „Europa“ nicht besser in „Euroma“ umtaufen?