Borrell fordert Patrouillenfahrten in der Taiwanstraße, Baerbock vermeidet „Nein“ zu Krieg gegen China. Experten in Australien sagen schwerste Folgen eines Krieges für die eigene Bevölkerung voraus.

Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell fordert Patrouillenfahrten europäischer Seestreitkräfte in der Straße von Taiwan und stellt damit einmal mehr Chinas rote Linien in Frage. Die Taiwanstraße sei ein „absolut entscheidendes Gebiet“, in dem man die „Freiheit der Seefahrt“ garantieren müsse, behauptete Borrell am Wochenende in einem Zeitungsbeitrag. Außenministerin Annalena Baerbock beantwortet die Frage, ob sie mit aggressiven Aussagen zu Taiwan eine mögliche „deutsche Beteiligung an einem Krieg gegen China“ habe ankündigen wollen, ausweichend und vermeidet ein „Nein“. Die Kriegsgefahr in Ostasien ist inzwischen so hoch, dass in Australien, einem Schauplatz regelmäßiger Kriegsübungen der Bundeswehr, der öffentlich-rechtliche Sender ABC offen die zu erwartenden konkreten Folgen eines Kriegs für die australische Bevölkerung diskutiert. Militärexperten waren sich gegenüber der ABC einig, der Westen könne einen solchen Krieg nicht gewinnen; Australien habe aber mit immensen Verlusten und dem Absturz in die Armut, eventuell sogar mit nuklearer Vernichtung zu rechnen. Sie fordern dringend, einen Krieg gegen China zu verhindern.

Im Dienst von US-Interessen

Um die Folgen eines etwaigen Krieges gegen China für das eigene Land in den Blick zu nehmen, hat kürzlich die Australian Broadcasting Corporation (ABC), Australiens öffentlich-rechtliche Rundfunkgesellschaft, vier erfahrene Insider befragt, die im Lauf ihrer Karriere jeweils Führungspositionen in den politisch-militärischen Hierarchien des Landes innehatten, an militärischen Operationen beteiligt waren und Einsicht in Papiere sämtlicher Geheimhaltungsstufen nehmen konnten. Es handelt sich um Professor Hugh White, einen ehemaligen stellvertretenden Staatssekretär für Strategie und Geheimdienste im Verteidigungsministerium; Admiral Chris Barrie, 1998 bis 2002 Oberbefehlshaber der Streitkräfte; Allan Behm, einst Leiter der Abteilungen für Internationale Politik und Strategie im Verteidigungsministerium; und Professor Clinton Fernandes, Ex-Militärgeheimdienstler. Alle vier sind fest überzeugt, dass die Vereinigten Staaten im Fall eines Krieges gegen China auf einer Beteiligung Australiens bestünden und dass sich die Regierung in Canberra dem nicht entziehen werde. Behm beklagt ausdrücklich eine „fundamentale strategische Pathologie“ des australischen Establishments, „US-Interessen auf Kosten unserer eigenen Interessen zu unterstützen“.[1]

„Bestenfalls ein militärisches Patt“

Alle vier von der ABC befragten Experten stimmen zudem darin überein, dass die Vereinigten Staaten einen Krieg gegen China nicht gewinnen können. Das deckt sich mit den Resultaten zwar nicht aller, aber doch einer Mehrheit der sogenannten war games in den USA, bei denen Denkfabriken, Regierungsmitarbeiter und Militärs konkrete Kriegsszenarien durchdeklinieren.[2] Die Experten weisen darauf hin, dass sowohl die USA als auch China über immense High-Tech-Militärapparate verfügen. Haben die US-Streitkräfte im Gegensatz zu den chinesischen umfangreiche Erfahrung mit dem Führen von Kriegen, so können die chinesischen Streitkräfte daraus Vorteile ziehen, dass sie auf oder nahe dem eigenen Territorium kämpfen müssten, während die US-Truppen riesige Nachschubwege über den Pazifik zu bewältigen hätten. Käme es zu einem Abnutzungskrieg wie in der Ukraine, könnte China zudem auf seine erheblich größeren Streitkräfte setzen. White urteilt, er sehe „keine glaubwürdige Chance für Amerika, einen Krieg mit China um Taiwan zu gewinnen“. Behm differenziert dahingehend, dass er im Fall eines Krieges, der in den nächsten fünf bis zehn Jahren begänne, als „bestes Szenario für die USA ein Patt“ prognostiziert, während er mit Blick auf Chinas rasante Aufrüstung urteilt, „nach 2035“ sei „ein chinesischer Sieg über die USA das wahrscheinlichere Ergebnis“.

Dramatische Verluste

Was die konkreten Kriegsszenarien anbelangt, sind sich die Experten uneinig. Während White davon ausgeht, ein Waffengang zwischen den USA und China werde sich vorrangig auf See abspielen, rechnet etwa Fernandes eher damit, dass China Taiwan blockieren könne; die weitere Entwicklung hänge vor allem davon ab, ob die Vereinigten Staaten die Blockade mit Waffengewalt zu beenden suchten. Einig sind sich wiederum alle darin, dass ein US-Krieg gegen die Volksrepublik, an dem sich Australien beteilige, zu immensen Verlusten an Menschenleben und zu dramatischen sonstigen Schäden führen werde. Fernandes weist darauf hin, dass schon der Verlust einer einzigen Fregatte 170 Menschenleben koste. White geht fest davon aus, ein solcher Krieg werde schon innerhalb kürzester Zeit „die Zahl an Verlusten übertreffen, die in Vietnam und in Korea erlitten wurden“. Barrie, als ein ehemaliger Oberbefehlshaber der Streitkräfte ganz besonders mit den Folgen von Kriegen vertraut, warnt eindringlich, ein Krieg gegen China werde sich auf alle Australier auswirken, nicht zuletzt ökonomisch: Zusätzlich zum Verlust an Menschenleben werde er „uns alle in die Armut treiben“, schlimmstenfalls „die meisten von uns umbringen, wenn der Krieg zum Atomkrieg wird“.

„Krieg unbedingt abwenden“

Keiner der vier australischen Experten lässt Zustimmung zu einem etwaigen Krieg gegen China erkennen. White erklärt kategorisch, er halte es für „einen Fehler“, in einen Krieg etwa um Taiwan einzutreten. Barrie urteilt, das „Gerede von der internationalen regelbasierten Ordnung“, die Beijing angeblich nicht völlig einhalte, sei „Belehrung und Einschüchterung“, wo stattdessen das Bemühen um die Beilegung von Differenzen angesagt sei, zumal sich auch Australiens Regierungen bei Bedarf über die „regelbasierte Ordnung“ hinwegsetzten. Dies gilt für alle im Westen. „Australien sollte alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel nutzen, um einen Krieg gegen China abzuwenden“, verlangt der ehemalige Oberbefehlshaber der australischen Streitkräfte. Behm wiederum kritisiert, Australien zögere nie, sich „am amerikanischen Abenteurertum zu beteiligen“: Bereits der Korea-Krieg sei „ein überflüssiger Krieg“ gewesen, ebenso die Krieg in Vietnam, im Irak und in Afghanistan; die Kriege in Vietnam und im Irak seien außerdem völkerrechtswidrig gewesen. Im Hinblick darauf, dass Taiwans Zugehörigkeit zu China international anerkannt wird, protestiert Behm, Taiwan gegen China zu unterstützen sei – ganz unabhängig davon, wie man zur Volksrepublik stehe – in etwa so, wie wenn man „Katalonien gegen die Spanier unterstütze“.

Chinas rote Linien

Die Frage, welche Folgen ein Krieg gegen China für Deutschland hätte, stellt sich ebenso konkret wie für Australien. Die Bundeswehr ist dazu übergegangen, sich regelmäßig an Kriegsübungen in der Asien-Pazifik-Region zu beteiligen, insbesondere in Australien; die Manöver richten sich durchweg gegen China (german-foreign-policy.com berichtete [3]). Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell hat am Wochenende gefordert, die Marinen der EU-Staaten sollten in Zukunft „in der Taiwan-Straße patrouillieren“, also die Volksrepublik noch energischer provozieren als schon bisher.[4] Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius hat vor einigen Wochen offen gelassen, ob Berlin im kommenden Jahr Kriegsschiffe in die Meerenge zwischen dem chinesischen Festland und Taiwan entsenden wird.[5] Worum es dabei geht, ist bekannt: Chinas Botschafter in Deutschland, Wu Ken, hat im Januar bekräftigt, „in der Taiwan-Frage“ gebe es „chinesische rote Linien“.[6] Deren Überschreiten führt unter Umständen direkt in einen großen Krieg. Außenministerin Annalena Baerbock hat in der vergangenen Woche auf die Frage der Bundestagsabgeordneten Sevim Dağdelen (Die Linke), ob die Ministerin mit ihren Äußerungen zu Taiwan eine etwaige „deutsche Beteiligung an einem Krieg gegen China“ habe ankündigen wollen, ausweichend geantwortet und ein klares „Nein“ vermieden.[7] Eine ernsthafte Debatte, mit welchen Verlusten die Bundeswehr oder auch die deutsche Zivilbevölkerung bei einem Krieg des Westens gegen China konkret zu rechnen haben, findet dabei noch nicht statt.

 

[1] Zitate hier und im Folgenden: John Lyons: What would war with China look like for Australia? Part 1. abc.net.au 19.02.2023 (für Hugh White und Chris Barrie). John Lyons: What would war with China look like for Australia? Part 2. abc.net.au 20.02.2023 (für Allan Behm und Clinton Fernandes).

[2] S. dazu Das Gravitationszentrum der Welt.

[3] S. dazu Mit der Luftwaffe an den Pazifik und Das Deutsche Heer am Pazifik.

[4] Josep Borrell, chef de la diplomatie européenne : « Un regard froid sur la Chine ». lejdd.fr 22.04.2023.

[5] Eckart Lohse, Patrick Welter: Der Weg ist das Ziel. Frankfurter Allgemeine Zeitung 20.03.2023.

[6] Dana Heide, Thomas Sigmund: Chinas Botschafter in Berlin: „Mentalität des Kalten Krieges“. handelsblatt.com 09.01.2023.

[7] Kein Nein von Baerbock zu einem Krieg gegen China. sevimdagdelen.de 20.04.2023.

Der Originalartikel kann hier besucht werden