Vor 70 Jahren, am 27. Februar 1953, wurde das Londoner Schuldenabkommen unterzeichnet. Acht Jahre nach dem Ende des Faschismus und des Zweiten Weltkriegs, mit dem Deutschland unermessliches Leid verursacht hatte, entschied sich eine Mehrheit von Staaten, dem unter den Kriegsfolgen leidenden und mit rund 30 Milliarden D-Mark hoch verschuldeten Land etwa die Hälfte seiner Schulden zu erlassen. Für die Rückzahlung der anderen Hälfte bekam Deutschland – genauer gesagt: Westdeutschland – sehr günstige Konditionen eingeräumt. Die letzte Rückzahlung erfolgte erst 2010.
Das Londoner Schuldenabkommen ermöglichte den wirtschaftlichen Aufschwung Westdeutschlands.
Allen voran verzichteten die USA auf einen Großteil ihrer Ansprüche – keineswegs selbstlos. Im Kalten Krieg mit der Sowjetunion sollte Westdeutschland – statt Reparationen zu zahlen – mit Geldern aus dem Marshallplan und Schuldennachlässen als Schaufenster der „freien Welt“ in Konkurrenz zur DDR attraktiv gemacht werden. Hinzu kam, dass die Reparationsforderungen nach dem Ersten Weltkrieg als Beitrag zum Aufstieg des Faschismus galten. Die Schuldenerleichterungen waren eine wichtige Grundlage für das westdeutsche Wirtschaftswunder.
Im Londoner Abkommen von 1953 wurde vereinbart, dass Deutschland seine verbliebenen Schulden nur aus Exportüberschüssen zurückzahlen musste, nicht aus seinem Vermögen, um die Entwicklung der westdeutschen Wirtschaft nicht zu bremsen. Die Gläubigerländer wurden so ermutigt, Waren aus Deutschland zu kaufen, um die Schuldentilgungsfähigkeit zu unterstützen. Seit Jahrzehnten erwirtschaftet Deutschland Exportüberschüsse, auch wenn diese seit 2017 sinken. Die Überschüsse der einen führen zu Exportdefiziten in anderen Ländern, mit der Folge von Verschuldung.
Mit unerbittlicher Härte
„Als Griechenland und Sri Lanka die Schulden der Bundesrepublik Deutschland erließen …“ war der Titel eines Online-Gesprächs der Evangelischen Akademie Bad Boll in Kooperation mit dem Bündnis „Erlassjahr.de – Entwicklung braucht Entschuldung“ am 27. Februar 2023, zum 70. Jahrestag des Londoner Schuldenabkommens. Die Referenten erläuterten die Besonderheiten dieser internationalen Vereinbarung und den Unterschied dazu, wie Gläubiger heute mit anderen verschuldeten Ländern umgehen.
Jürgen Kaiser von Erlassjahr.de betonte, das Londoner Schuldenabkommen sei mit Deutschland auf Augenhöhe verhandelt worden. Alle Auslandsschulden – öffentliche und private – seien umfassend und extrem großzügig geregelt worden. Bei späteren Streitigkeiten um die Auslegung wurden Schiedsgerichte angerufen. Heute würden im informellen „Pariser Club“ die Gläubiger allein entscheiden. Ein betroffenes Land, wie beispielsweise Sri Lanka, das 2022 zahlungsunfähig wurde, müsse die Entscheidung entgegennehmen.
Weltweit sind etwa 138 Länder verschuldet, überwiegend im Globalen Süden. Aber auch Griechenland bekam 2015 die berüchtigten Strukturanpassungsprogramme zu spüren. Die „Troika“ aus Europäischer Kommission, Weltbank und Internationalem Währungsfonds (IWF) verordnete dem Land unter Federführung Deutschlands mit unerbittlicher Härte den sozialen Kahlschlag und den Ausverkauf öffentlicher Infrastrukturen. Begleitet wurde dies in Deutschland von diffamierenden Kampagnen gegen die angeblich „faulen Griechen“.
Neben den Westalliierten gehörten 1953 unter anderem auch Griechenland und Sri Lanka (damals Ceylon) zu den Unterzeichnerstaaten des Londoner Schuldenabkommens. Bei den Verhandlungen wurde Deutschland durch den Finanzberater von Bundeskanzler Konrad Adenauer, Hermann Josef Abs, vertreten. Abs war im Faschismus als Deutsche-Bank-Vorstand an Arisierungen beteiligt, und als Aufsichtsratsmitglied der IG Farben mitverantwortlich für die „Vernichtung durch Arbeit“. Trotzdem wurde er „entnazifiziert“ und war ab 1952 wieder bei der Deutschen Bank sowie im Aufsichtsrat Dutzender Firmen tätig.
Was wäre nötig?
Der ecuadorianische Ökonom und Ex-Minister Alberto Acosta skizzierte im Online-Gespräch, was heute nötig wäre. Da das Finanzkapital mächtiger sei als je zuvor, müssten internationale Schiedsgerichte für Finanzen und für Schulden eingerichtet werden. Die Finanzkriminalität müsse verfolgt werden, Steueroasen müssten verschwinden und Instrumente wie eine Tobin-Steuer auf Finanzmarkttransaktionen eingeführt werden. Wichtig sei ein internationales Währungssystem ohne US-Dollar-Dominanz.
Mit ihrer Logik von Beherrschung und Ausbeutung hätten die kapitalistischen Metropolen ökologische Schuld auf sich geladen, dies müsse beendet werden. Dafür schlägt Acosta ein internationales Tribunal für die Rechte der Natur und für eine ganz andere Wirtschaft und Gesellschaft vor. Das Ziel sei eine Postwachstumsgesellschaft, die ein gutes Leben für alle ermögliche, ein „Pluriversum“ (Rabe Ralf Februar 2023, S. 20).
Gute Vorsätze mit erheblichen Risiken
Im Koalitionsvertrag der Ampel wurde vereinbart: „Unser Ziel ist ein neuer internationaler Schuldenmanagementkonsens. Wir unterstützen eine Initiative für ein kodifiziertes internationales Staateninsolvenzverfahren, das alle Gläubiger miteinbezieht und Schuldenerleichterungen für besonders gefährdete Ländergruppen umsetzt. Um die Eigeneinnahmen der Partnerländer zu erhöhen und Steuerflucht zu bekämpfen, werden wir rechtmäßige, effektive und transparente Steuersysteme fordern und fördern, die auch die finanzielle Leistungsfähigkeit der Eliten einbeziehen.“
Die Formulierung „fordern und fördern“ weckt ungute Erinnerungen an die Einführung der Hartz-IV-Gesetze und offenbart eine hierarchisierende Mentalität, die sich seit Jahrzehnten im Umgang mit verschuldeten Ländern zeigt. Die Gläubigerstaaten geben den Ton an, ganz anders als vor 70 Jahren, als die internationale Staatengemeinschaft mit dem verschuldeten Deutschland verhandelte.
Auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar verband Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) die Schuldenfrage mit der Klimakatastrophe, die sie als „die größte Sicherheitsgefahr unserer Zeit“ bezeichnete. Der Finanzbedarf der am stärksten betroffenen Länder des Globalen Südens für die Behebung von Schäden durch klimakatastrophale Ereignisse und für grüne Investitionen könne zu Schuldenspiralen führen. Es gehe darum, „wie wir hoch verschuldeten Staaten wieder Luft zum Atmen geben können. Denn nur wer atmen kann und nicht permanent nach Luft schnappen muss, der ist in der Lage, sich für die Zukunft stark zu machen“, sagte Baerbock.
Es wird letztlich eine Frage politischer Machtverhältnisse sein, ob verschuldete Länder wirklich entlastet werden, ob ihnen Entwicklung im Sinne einer sozial-ökologischen Transformation ermöglicht wird, oder ob mit neuen Geschäftsmodellen und neuen Finanzmarktinstrumenten für Klimascheinlösungen alles noch schlimmer wird (Rabe Ralf Oktober 2021, S. 20). Kritische Wachsamkeit ist geboten.
Weitere Informationen: www.erlassjahr.de
Interview der Autorin mit Alberto Acosta: telepolis.de/-7530046
Der Artikel von Elisabeth Voß erschien in der Ausgabe April/Mai 2023 der Berliner Umweltzeitung Rabe Ralf.
Dieser Artikel ist unter einer Creative Commons-Lizenz (Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen 3.0 Deutschland) lizenziert. Unter Einhaltung der Lizenzbedingungen darf er verbreiten und vervielfältigen werden.