von Hans-Jürg Fehr für die Online-Zeitung INFOsperber
(Red.) Der hier publizierte Artikel von Hans-Jürg Fehr, Alt-Nationalrat und ehemaliger Parteipräsident der SPS, ist erstmals auf der Webseite der Schweizerischen Gesellschaft für Aussenpolitik erschienen.
Die Lebenslüge Neutralität ist zum eigentlichen Identitätsfaktor geworden. Die Gleichsetzung von neutral und schweizerisch erschwert daher eine sachliche Debatte und behindert die Umsetzung einer Aussenpolitik, wie sie die Bundesverfassung vorgibt. Da findet man in Artikel 54 die Ziele und Zwecke der schweizerischen Aussenpolitik: die Linderung von Not und Armut in der Welt, die Achtung der Menschenrechte, die Förderung der Demokratie und des friedlichen Zusammenlebens der Völker, die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen. Die schweizerische Aussenpolitik soll also solidarisch sein. Unmissverständlich. Die Neutralität kommt in diesem Zielkatalog nicht vor. Trotzdem ist sie in der politischen Praxis und im kollektiven Bewusstsein zu einem den Verfassungszielen übergeordneten Wert geworden. Diese Verabsolutierung eines simplen Mittels zur obersten aussenpolitischen Maxime findet aber weder in den historischen Erfahrungen der Schweiz noch in den aktuellen Herausforderungen ihre Begründung und Rechtfertigung.
Schweiz blieb verschont, weil sie nicht neutral war
Den grössten Härtetest, den Zweiten Weltkrieg, hat die schweizerische Neutralität nicht bestanden. Die militärische und wirtschaftliche Zusammenarbeit mit den faschistischen Achsenmächten im Norden und im Süden war das Gegenteil von neutral. Aber sie hat die Schweiz wahrscheinlich vor der Besetzung durch Nazi-Deutschland bewahrt. Das Instrument Neutralität wurde vom Bundesrat ganz opportunistisch als untauglich erkannt für die Erhaltung der Unabhängigkeit des Landes und deshalb nicht angewendet – wenn auch wider besseres Wissen weiterhin forsch behauptet. Fakt ist: Die Schweiz ist verschont geblieben, weil sie nicht neutral war. Neutralitätsverstösse gab es auch während dem Kalten Krieg verschiedentlich. Diese opportunistische Praxis hat also eine lange Tradition. Regierung, Parlament und Bevölkerung sehen aber geflissentlich darüber hinweg. Zur Richtschnur für aussenpolitisches Handeln ist sie nicht geworden. Das tut weiterhin die Lebenslüge von der «immerwährenden Neutralität».
Was ebenfalls gerne übersehen wird: Die schweizerische Neutralität ist abhängig von der Akzeptanz der Völkergemeinschaft. Das ist so seit dem Wiener Kongress von 1815. Fehlt die Akzeptanz, wird Neutralität vom Vor- zum Nachteil. Das wird uns gerade jetzt im Zusammenhang mit dem russischen Krieg gegen die Ukraine vorgeführt. Es versteht niemand, dass sich die Schweiz weigert, Drittstaaten wie Deutschland oder Dänemark das Recht einzuräumen, einst von der Schweiz gekaufte Munition der bedrängten Ukraine zu überlassen. Das wird nicht als neutral wahrgenommen, sondern im günstigeren Fall als unsolidarisch, im ungünstigeren als Parteinahme für den Aggressor Russland. Die in der Verfassung verankerten Ziele der schweizerischen Aussenpolitik müssten zu ganz anderen Entscheiden führen. Zu Entscheiden, die im Einklang stünden mit Beschlüssen der UNO-Generalversammlung und dem, was die europäische Staatengemeinschaft macht und zu Recht von der Schweiz erwartet. Das verbohrte Beharren auf der Neutralitätsmaxime verhindert eine solidarische Aussenpolitik und wird zum Prinzip, das dem Land mehr schadet statt nützt.
Keine «leadership», wo sie sich aufdrängt
Seit langem schon hat man sich in der Schweiz in einer zweiten Lebenslüge gemütlich eingerichtet. Man sei ja bloss ein Kleinstaat und hätte international wenig bis gar kein Gewicht. Die Paarung der beiden Lebenslügen zum «neutralen Kleinstaat» wird zum ultimativen Konstrukt, das jedwede aussenpolitische Passivität rechtfertigt. Die Schweiz ist aber gar kein Kleinstaat. Bezüglich Bevölkerung gehört sie zu den Mittelstaaten, bezüglich Wirtschaftskraft zu den Top 20 weltweit. In zentralen Wirtschaftsbereichen wie der Finanzindustrie und als Sitzstaat von Rohstoff-Konzernen ist sie sogar globale Spitze. Die westlichen Sanktionen gegen Russland hat die Schweiz zwar leicht widerwillig und verspätet («Lässt das die Neutralität zu?») nachvollzogen, aber sie hat in keinem Moment dort leadership übernommen, wo sie dazu prädestiniert wäre: Beim entschlossenen Vorgehen gegen russische Oligarchengelder, bei Massnahmen gegen das Kriegsgewinnlertum der Rohstoffriesen und bei den Bestrebungen, die im Westen eingefrorenen Gelder des russischen Staates auf völkerrechtlich korrekte Art und Weise dem Wiederaufbau der Ukraine umzuwidmen. Was kann ein Kleinstaat da schon ausrichten, schon gar ein neutraler Kleinstaat?
Die Lebenslügen begründen die Hände im Schoss. Auf der Strecke bleibt der eigentliche Kern unserer Aussenpolitik – die internationale Solidarität. Es ist höchste Zeit und ganz bestimmt im Interesse des Ansehens der Schweiz, dass sie diese Lebenslügen ad acta legt und so politisiert, wie es die Bundesverfassung vorsieht.